Montag, 10. Februar 2020
Die Weihnachtsgala Anekdote
In meiner Trauergruppe habe ich heute eine Anekdote erzählt um meinen Vater und ein Foto von ihm in der Gruppe vorzustellen.
Der Gedanke dahinter ist das Jahr nicht nur weiter mit der Trauer sondern auch mit fröhlichen Erinnerungen an den/der Verstorbenen zu beginnen. Außerdem bietet dieses Foto der Gruppe die Gelegenheit sich ein Bild von dem Menschen zu machen um den das jeweilige Gruppenmitglied trauert.

Ich habe ein Foto mitgebracht von der Weihnachtsfeier 2011. Auf dem Bild bin ich mit meinem Vater und meinem Lebensgefährten zu sehen. Alle drei Lächeln vergnügt im Dunkeln des Abends auf einer Terrasse. Mein Vater steht in der Mitte, während mein Lebensgefährte sich spontan mit ins Bild drückt und wir somit meinen Vater umzingeln. Seine Körperhaltung wirkt daher leicht angespannt, aber sein Lächeln könnte nicht ehrlicher sein. Wir sind alle drei in schicker Kleidung: die Herren im Anzug und Krawatte, ich in Jackett, Bluse und Rock.
Ein Ausschnitt mit Gesicht meines Vaters dieses Bildes wurde für die Trauerfeier und seine Andachtskarte verwendet. Leider war es vergrößert etwas unscharf, aber dieses Lächeln wollten wir als Familie allen Gästen gerne zeigen. Sein Lächeln als Erinnerung verschenken.

Ich erzählte in der Gruppe folgendes in etwas kürzerer Fassung dazu:
Wir standen im Rauchereck, nachdem wir uns durch ein Buffet mit diversen Salaten, Pasteten, Terrinen und fünf Hauptgängen gekostet, bewertet, besprochen und gegessen haben. Es sollten nach der Pause noch bis zu 3 verschiedene Desserts folgen. Ebenso sollte der Abend noch programmreich weitergehen mit Tanz, kleiner Tanzvorführung und Tombola.
Aber wir standen draußen und zelebrierten mit den Zigaretten- und Zigarren-Rauchern inklusive Flachmann eine kleine Sub Party auf der Party. Wir lachten. Wir rissen Witze. Wir machten Spaßfotos mit mitgebrachten Requisiten (z.B. Spaßbrillen).
Die ersten Jahre waren nur wir Kinder von unserer Mutter eingeladen worden. Die folgende Jahre durfte pro Kind ein Freund, später ein Partner und ein Freund mit. Jedes Jahr saßen wir Kinder mit Begleitung mit unserem Vater an einem 10 Personen Tisch, während meine Mutter und mein Stiefvater Gott und die Welt begrüßten und Tombola-Tickets verkauften oder anderen Vereinspflichten nachgingen. Die beiden stießen mehrmals auch wieder zu uns, aber durchgehend mit uns war mein Vater.

Mein Vater war mittendrin und mischte bescheiden, aber merkbar mit. Mein Vater, der Vernunftmensch, der Verantwortungsbewusste, konnte völlig losgelöst mit seinen erwachsenen Kindern und Freunden rumalbern und alles Mögliche bereden. Mein Vater war eher der zurückhaltende wissbegierige Tüfteler Typ, eher Einzelgänger, durchaus interessiert und offen, aber eigentlich nicht der gesellschaftsfreudigste Mensch. Aber jedes Jahr bei dieser chicen Weihnachtsfeier zog er mit uns Kindern mit. Er brachte uns Anfangs eine Zigarrensorte, im Folgejahr bereits eine Auswahl an Zigarren und Zigarillos mit. Im nächsten Jahr kamen zu Zigarren auch Alkopops, Biermischgetränke und einen Schnaps im Kofferraum mit. Wir durften den Alkohol nicht mitnehmen auf die Feier, aber wir brachten einzelne Flaschen davon mit hoch ins Rauchereck am Eingang der Location legten dort eine weitere Pause ein und feierten drinnen am Tisch und auf der Tanzfläche weiter. Mein Vater war selbst beim Feiern unser Versorger. Meine Mutter hatte uns den Eintritt zur Veranstaltung zu Weihnachten geschenkt, mein Vater hingegen hielt unsere Party am Laufen mit den Extras, die den Unterschied zwischen einem netten und einem außergewöhnlichen Abend ausmachten. Und er genoss genau das, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Mein Vater war die Bescheidenheit in Person. Das war die Art wie mein Vater Zuneigung ausdrückte, Unterstützung auslebte. Er stand im Hintergrund und genoss es uns die Bühne zu überlassen.

Ich bin froh, dass unsere Beziehung diese unabhängige freundschaftliche Ebene erreichen konnte, ehe er von uns ging.
Ich bin glücklich darüber fast ein Jahrzehnt solche Erinnerungen gesammelt zu haben.
Und ich bin dankbar für die unendlich vielen formalen drinnen vorm Weihnachtsbaum in der Foto-Ecke Fotos und noch mehr für die albernen nächtlichen draußen im Rauchereck Fotos mit meinem Vater mitten drin.

27./28.1.20

Bild: Inga Seliverstova | pexels.com
https://www.pexels.com/de-de/foto/fashion-mode-menschen-stehen-3394237/

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Donnerstag, 6. Februar 2020
Leben im Schmerz
"Ich bin der Meinung", schreibt Jakobs Kollegin aus Portugal, "dass Menschen, die sich umbringen, nicht wirklich sterben wollen. Sie wollen leben, aber sie können den Schmerz nicht mehr ertragen."

aus: Filmkritik "Bruder jakob schläfst du noch"
Bert Rebhandl, Ein Dokumentarfilm als familientherapeutische Angelegenheit, 9.9.2018, STANDARD Verlagsgesellschaft m.b.H. 2020
gefunden 28.1.20

Bild: David Cohen | unslash.com
https://unsplash.com/photos/qghuLqyh3nE

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Montag, 3. Februar 2020
Selbsthilfegruppe
Wer keine Vorurteile gegenüber Selbsthilfegruppen hat, schaut keine Filme und keine Serien im Fernsehen oder im Kino.
Auch Dokumentation über Krankheitsbilder mit Gruppentherapien oder Selbsthilfegruppen bringen einem nicht bei wie es sich tatsächlich anfühlt selbst in so einer Gruppe Platz zu nehmen.
Es ist etwas völlig anderes ein ernsthaftes Problem zu haben und selbst auf der Suche nach Hilfe und Gleichgesinnten zu sein als wenn man so etwas nur hört oder erzählt bekommt.
Jede Art der Selbsthilfegruppe sollte die Chance auf Verständnis, Austausch und Trost sein. Damit dies allerdings irgend möglich ist, muss man als Teilnehmer diesen Weg auch gehen wollen und man muss sich schlichtweg einbringen.
Das Stigma das solch einer Selbsthilfegruppe einhergeht vergisst man schnell, sobald das Hilfsgefühl einsetzt.

Als ich vor einem halben Jahr um Zutritt in die Trauergruppe für Trauernde nach Suizid bat, wurde mir diese nach einem längeren Telefonat mit einer der Gruppenleiter auch sofort gewährt. Wir hatten am Telefon eine Stunde mein Interesse an der Gruppe, über meinen Verlust und meine Fragen sowie die herrschenden Umgangsregeln gesprochen. Trotz der Fremdheit zu meiner Gesprächspartnerin habe ich sofort das Verständnis einer erfahrenen Gleichgesinnten gespürt. Von Beginn an hatte ich ein gutes Gefühl trotz meiner gemischten Erwartungen.
Jeder in der Gruppe kennt den Verlustschmerz und weiß um die Ernsthaftigkeit und Sensibilität des Themas um einen offenen wertungsfreien Dialog zu führen.
Aber auch wir vergessen selten, aber manchmal die wichtigste Regel in der Gruppe: Vergleiche und negative Wertungen zu unterlassen. Aber man merkt schnell weshalb das undiplomatisch ist.

In meiner Trauergruppe sind ca. 30 Personen angemeldet. Es sind alle Arten von Betroffenheit in der Gruppe vertreten: der/die Suizidant war Lebensgefährte/in, Elternteil, Geschwister oder Kind. Jeden Monat folgt eine Woche vorm Termin eine Einladung der zwei Gruppenleiter auf die man nach Bedarf für ein Treffen zu- oder absagt. Bei einem Treffen sind zwischen 7 bis 15 Personen anwesend. Das Treffen dauert i.d.R. knapp 2 Stunden.
In meiner Selbsthilfegruppe leiten zwei Betroffene, ohne psychologische Vorbildung, aber mit Gruppenleiterschulung, Gleichgesinnte auf Augenhöhe durch diese Treffen.
Die zwei Gruppenleiter richten den Raum in einer sozialen Einrichtung ein, d.h. Stuhlkreis aufstellen, lüften, Dekor-Schale mit Sand und Kerzen in die Mitte, kostenloser Sprudel sowie Gläser bereit stellen und die Bibliothek zum Thema mit Leihbüchern und kostenlosen Broschüren zum mitnehmen aufstellen.

Am Anfang stellen sich alle mit Vornamen vor (es duzen sich hier alle), sagen um wen sie trauern und wenn man möchte wie die/derjenige starb z.B. "Ich heiße Anna. Mein Vater hat sich das Leben auf den Gleisen genommen".
Durch diesen Einstieg kehrt immer eine gewisse Ernsthaftigkeit im Raum ein. Je nach Tagesstimmung fällt mir das Aussprechen dieses Satzes noch immer schwer.

Beim ersten Treffen wollte ich mich zurückhalten mit meiner Meinung und das Geschehen auf mich wirken lassen um mir ein Bild davon zu machen wie sich andere hier austauschen. Aber von Beginn an habe ich ein tiefes Vertrauen in die Betroffenheit dieser völlig fremden Personen gespürt und mich eingebracht. Der pure vertraute Schmerz jedes Einzelnen ist zu spüren im Gespräch. Es ist als ob man hier eine Fassade ablegen darf. Hier sind Mitglieder, die ganz frisch oder seit Jahren ein Mal monatlich über ihre Trauer und ihren Umgang mit dieser völlig vorwurfsfrei und natürlich sprechen.
Denn egal wie unterstützend das eigene soziale Umfeld ist, jeder hier hat erlebt wie es ist bei jemandem an die Grenzen dessen unbetroffenen Geduld zu stoßen. Wer es nicht selbst erlebt hat, kann irgendwann das Thema Suizid nicht mehr unbefangen hören. Das ist völlig verständlich, aber auch sehr frustrierend als Betrofffene/r. Ich möchte keineswegs ständig negative Gesprächsthemen anschneiden, aber es handelt sich um ein Familienmitglied. Das Thema ist für immer mit meinem Leben verbunden. So geduldig und verständnisvoll meine Freunde mit mir sind, sie kennen den Schmerz nicht. Sie können nicht unermesslich viel Geduld für dieses Thema Suizid aufbringen. Das ist absolut in Ordnung. Ich selbst will nicht immer zu das Gefühl haben ihnen Umstände zu bereiten.
Aber irgendwo müssen diese Gedanken und Gefühle sich Gehör verschaffen und in der Gruppe habe ich stetig diesen völlig freien Raum und ein ungewöhnliches Vertrauen in die Intimität der Teilnehmer. Keiner geht raus aus der Gruppe und wird von mir mit Namen und Alter mein Schicksal ausplaudern. Es ist ein Grundvertrauen unter Betroffenen das diese Treffen unbezahlbar macht. Mensch sein in Reinkultur.

Manchmal bringt ein Mitglied ein Thema mit in die Runde, manchmal regt der Gruppenleiter zu einem Thema das Gespräch an. Das fällt sehr unterschiedlich aus, aber führt immer zu einem Dialog. Häufig fließen Tränen, weil die Gefühle so tiefgreifend sind. Jedes Mal stößt man hier auf Verständnis und Taschentücher. Die Gruppenleiter moderieren diesen Gruppendialog u.a. mit belegten Fakten und Statistiken zu Betroffenenzahlen, studierten Verhaltensmustern oder geschichtlichen Hintergründen oder sprachlichen Entwicklungen. Diese Fakten geben einem oft eine gewisse Bodenhaftung zu den teils unlogischen Gefühlswelten des Themas. Oft traut man sich selbst kaum bis man die Zahlen und Fakten das erste Mal hört.
Zum Beispiel habe ich hier erfahren, dass Suizid keine gesellschaftlich beschränkte Todesart ist. Es gibt reiche wie arme Suizidanten, junge wie alte Suizidanten, männlich wie weibliche Suizidanten, durch alle Kulturen und alle Epochen hindurch Suizidanten.

Und in dieser Runde gibt es das Angebot nach dem Treffen im Anschluss etwas trinken bzw. essen zu gehen in einem beliebigem Lokal in der Nähe um den geführten Dialog mit dem freiwilligen Teil der Gruppe ausklingen zu lassen. Bei diesem "Abschlussgetränk" reduziert sich das Gesprächsthema nicht mehr nur auf "Suizid". Es wird über alles Mögliche darüber hinaus gesprochen: vom Betroffenem, zum Leben des/der Verstorbenen, zum Alltag, Tagesgeschehen, Gesundheit und und und.

Diese Art von Problembewältigung ist nicht jedermanns Sache, aber mir hilft die Gruppe sehr und ich kann Programme wie diese nur weiterempfehlen.

27./29.1.20

siehe auch: Anlaufstellen

Bild: Zach Vessels | unsplash.com
https://unsplash.com/photos/Kzmd7HSelJw

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