Donnerstag, 4. November 2021
Wie geht es dir?
Die Frage "Wie geht es dir?" ist für mich seit 2019 eine geladene Frage.

Es gibt auf diese so einfache Frage, gefühlt keine richtige Antwort mehr. Na klar, jeder hat mal bessere und mal schlechtere Tage. Nur ist seither das Spektrum der schlechten Tage um ein vielfaches weiter als vor dem Suizid. Wenn das Schlimmste was passieren kann, bereits passiert ist, sind die weiteren Tiefpunkte nicht mehr so unbeschreiblich und unerwartet Tief. (Gott sei Dank. XXX)

Ich hatte davor bereits Krisen überstanden: Scheidungskind, Mobbing, sitzen geblieben, Arbeitslos, Adipositas II. Grades, schmerzhafte Trennungen, Geldsorgen, Rechtsstreite also diverse Auswegslosigkeiten in einigen Farben und Facetten. Vielem davon bin ich entkommen: seit Jahren bin ich stabil im selben Beruf beim selben Arbeitgeber, in derselben liebevollen Beziehung, habe eine stabile Gesundheit trotz Schwächen, endlich wieder einen stabilen Kontostand.

Also ja, wir reden hier von Wohlstandsproblemen sicherlich und dennoch ist mein "Mir geht es gut." oder "Ich bin okay." bei weitem nicht dasselbe wie bei meinen Altersgenossen. Damit muss man erst mal klar kommen. Ich habe stetig das Gefühl hinterher zu hinken, aber ich bin nicht mehr in einem depressiven Loch. Also ja, auf meinem Spektrum, geht es mir gut.

Die Erbschaft befindet sich auf einem stabilen Weg in die richtige Richtung und das endlich aufgeteilt auf die sechs Schultern, die davon profitieren (werden). Meine Gesundheit stelle ich endlich wieder vorne an um die verdammten Blutdruck Tabletten loszuwerden, die mir erst durch die Suizid(Trauer)Spätfolgen verschrieben wurden. Ich denke endlich wieder vorwärts und nicht ständig, immerhin nur ab und an, rückwärts.

Ich fantasiere wieder vom Heiraten und Kinder kriegen. Ich mache konkrete Relatiätschecks. Wie viel Möbel braucht ein Kind? Passen diese Möbel in diese Wohnung noch rein? Ab wie viel Jahren braucht ein Baby ein Kinderbett? Kita und Kindergarten sind direkt nebenan, wie lange ist die Warteliste?
Wie groß würde ich Hochzeit feiern wollen? Nur die Familie und standesamtlich oder doch mit Priester und Freunden? Oder einfach nur wir zwei auf dem Standesamt und eine große Grillparty im Nachhinein mit Aufhänger 'Jahrestag Jubiläum 10+' anstelle 'Hochzeit', mit allen, die uns lieb sind?

Allein der Fakt, dass mein eigenes Leben wieder Fahrt gewinnt, ist Grund zur Freude für mich. Ich erwische mich beim Nestbau, beim Ausmisten, Keller entrümpeln, beim verschönern unserer Wohnung.
Ja, mir geht es besser. Trotz Pandemie, trotz Zukunftssorgen, trotz laufender Rechtsstreitigkeiten, trotz vorhandener Trauer.

Ja, mir geht es tatsächlich gut.

28.10.21

Bild: Drew Beamer | unsplash.com
https://unsplash.com/photos/xU5Mqq0Chck

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Donnerstag, 21. Oktober 2021
Zerbrechen
Meine Familie zerbrach mit dem Tod meines Vaters. Er hat im Alleingang die Fassade unserer funktionalen Patchwork-Familie aufrecht erhalten. Er hat all die Arbeit reingesteckt, er gab all seine Finanzen auf und her für uns alle. Er hinterließ eine riesen Lücke, die keiner zu füllen vermag noch will.
Mein Unwille unser aller Situationen eskalieren zu lassen, zwang mich eine großes Stück dieser verfickten Lücke zu schließen.

Auch nur einen Teil seiner Lasten zu Schultern, nimmt mir jegliche Lebenskraft. Ich weiß nicht wie er solange überlebt hat. Ich weiß es wirklich nicht. Aber was ich endlich begreife ist, dass er keine Energie mehr hatte sich um sich selbst zu kümmern, sich einem Hobby zu widmen, geschweige denn Zeit für eine (besondere) Freundin zu finden. Es war einfach nichts mehr von ihm übrig.

Letzteres erklärt mir sehr deutlich, warum ich jetzt so schwer um meine Beziehung mit meinem Lebenspartner kämpfen muss. Diese Misere aufzuräumen, alle Familienmitglieder zum Erwachsen werden zu zwingen, hat mich mit keiner Energie zurück gelassen um meinem Mann gerecht zu werden. Ich bin die gaaaaanze Zeit wehleidig, traurig, wütend, und frustriert.

Ich bin so angespannt, dass ich keinen Abend verbringen kann ohne darüber zu reden. Ich habe das Gefühl wir führen uns wie Zimmergenossen auf anstelle von Lebenspartnern. Etwas hat sich verschoben und es ist meine Schuld. Ich habe mir zu viel aufgeladen und kann weder damit umgehen noch werde ich angemessene Wert geschätzt von meiner Familie angesichts meines Einsatzes. Es ist kein Respekt und keine Liebe mehr für die Familie da, wenn überhaupt ist es eine Liebe wie eine Art schlechte Angewohnheit. Etwas was du behältst für das was es war, nicht für das was es ist.

Ich habe mich nie ungesünder und gar toxisch verhalten als hier und jetzt.

Ich bin an einem neuen Tief angekommen. Ich schäme mich vor mir selbst und meiner (so genannten) Familie.

24.9.21 / 28.10. 21

Bild: Hans | pixabay.com
https://pixabay.com/de/photos/abriss-bauschutt-abbruch-baustelle-167737/

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Donnerstag, 2. September 2021
Selbstbestimmung und Gesundheit
Mit der Diskussion rund ums Thema Corona Impfung ist mir erst klar geworden, dass es entgegen der mehrheitlich verbreiteten Meinung auch andere, gar entgegen gesetzte Meinungen und Blickwinkel zur eigenen gibt.

Wenn sich jemand gesundes in seinen Dreißigern gegen die Impfung und gar bewusst für die Infektion entscheidet, hat keiner das Recht diese Entscheidung zu verbieten. Sie in Frage zu stellen, dagegen zu argumentieren, humane Überzeugungsarbeit leisten... Das ist legitim und richtig.

Warum sollte es in Hospizen oder beim Assistierten Suizid anders sein? Warum soll jemand tot unglückliches der Tod verwehrt werden? Wenn bereits alle Alternativen* ausgeschöpft wurden? Wer sind wir, dass wir uns das Recht nehmen über diesen individuellen Weg urteilen zu dürfen? Wozu die weitere Quälerei? Für den Staat? Für die Familie? Um es anderen Recht zu machen? Es gibt Dinge, die werden auch bei Androhung von Strafen geschehen, die werden auch nicht durch Bitten und Flehen verhindert. Manches lässt sich nicht aufhalten. Der Schaden ist bereits hier. Also wer entscheidet über meinen Körper und meine Seele? Im Hier und Jetzt? Sollte das nicht ich sein?

Vielleicht lohnt sich das Leid nicht in jedem einzelnen Fall. Die Möglichkeit besteht. Leider. So sehr das auch schmerzt.

Leben und Leben lassen, auch wenn das ultimativ heißt leben und sterben zu lassen.

12.8.21

* "Alternativen" darunter verstehe ich: Hilfestellungen annehmen z. B. Psychotherapien, Kuren, Selbsthilfegruppen, Psychopharmaka, sowie Alltag strukturieren, Gesunde Ernährung, Gesunder Schlaf, Sport, Entspannungstraining, krankhafte Beziehungen zu verarbeiten, Krisen zu überwinden, sowie ernsthafte Versuche Freude im Leben zu finden z. B. in Hobbies, Leidenschaften, Herausforderungen, die alle mehrfach ausprobiert wurden!!!
Nachtrag 9.9.21

Bild: AJS1 | pixabay.com
https://pixabay.com/de/photos/spritzen-tropfen-blau-das-wasser-5118071/

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Freitag, 11. Juni 2021
Was? Suizidversuch - Wer? Gastronomen - Warum? Corona
Es kam wie es kommen musste. Die Eltern der Kollegin meines Lebensgefährten haben ihre Gaststätte verloren durch die unzähligen Corona Restriktionen und all ihr Erspartes gleich mit dazu.

Die beiden haben ihren Lebensinhalt verloren und wollten sich gemeinsam mit Schlaftabletten das Leben nehmen. Die Tochter arbeitete mit meinem Lebensgefährten. Ihr Job war nun ebenfalls in Gefahr... Obendrein ist sie auch noch Schwanger und aus dem Betrieb hat mein Lebensgefährte als erstes davon erfahren. Ich habe mir sofort nachdem ich davon erfahren habe, Gedanken gemacht wie man helfen könnte. Vielleicht ein gemeinsames Essen mit Gespräch...

Mir kamen folgende Gedanken als erstes in den Sinn:

Ich kann Ihnen nur empfehlen lassen sie alle die Schuld und die Vorwürfe los. Jeder der diesem Weg begeht oder nahe steht oder betroffen ist von jemand der diesen Weg geht / gegangen ist, kämpft mit Schuldgefühlen. Sprechen Sie alle diese Schuldgefühle laut gegenüber einander aus und lassen Sie diese danach für immer los. Mit Hilfe Dritter oder ohne ist jedem selbst überlassen.

Egal wie oft das Thema wieder aufkocht, Schuld und Schuldzuweisungen sind nicht die Antwort auf einen Suizidversuch. Liebe ist die Antwort. Verlust ist die ganz reale Gefahr. Punkt.

Depression ist eine Krankheit, keine Befindlichkeit oder Laune. Nehmen Sie die Symptome ernst. Die Psyche eines Menschen kann genauso krank werden wie der Körper eines Menschen. Und eine Heilung braucht immer seine Zeit, egal bei welcher Erkrankung.

Und ganz wichtig: Sie haben die Chance ihr Enkelkind kennen und lieben zu lernen. Mein Vater hat uns diese Chance genommen. Ihre neue Chance dazu ist ein unglaubliches Geschenk. Vergessen Sie das nie.

Es kam nie zu diesem Gespräch. Die Familie ist durch diese Tragödie enger zusammen gerückt. Ich hoffe, dass sie ihren Weg finden.

08.04.21 / 19.05.21

Bild: Ben White / unsplash.com
https://unsplash.com/photos/e92L8PwcHD4

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Donnerstag, 1. April 2021
Selbstaufgabe ist auch keine Lösung
In meiner Trauer habe ich viele Schuldgefühle gegenüber meinem verstorbenen Vater gefunden. Aus der Hilflosigkeit diese Schuldgefühle nicht aufwiegen zu können, entstand in meinem Fall eine Art kranker Bewältigungsmechanismus.

Ich habe mich in die Arbeit seines Nachlasses gestürzt und sehr viel meiner Freizeit aus freien Stücken diesem geopfert. Aber wie frei kann diese Entscheidung schon sein? Sie entstand aus Zwängen und Alternativlosigkeit.
Nach und nach redete ich mir ein; meine Familie mit meinem Einsatz zu beschützen. Aber auch diese Selbstlüge ging nicht auf.

Egal wie sehr ich mich knechte und aufopfere, die vielen gemischten Gefühle und Schuldgefühle verblassen nur sehr sehr zaghaft.

Ich musste mir selbst verzeihen.


21.7.20 / 22.3.21

Bild: Uplifting Content · 21. Juli 2020
Uplifting Content · 21. Juli 2020 · facebook.com
"Du bist nicht dazu verpflichtet, dich selbst anzuzünden um andere warm zu halten."

Verfasser unbekannt

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Donnerstag, 25. März 2021
2. Todestag - Flashbacks / Rückblenden
Es ist sein zweiter Todestag, aber eigentlich bin ich erst 1 Jahr und 363 Tage in Trauer. 2 Tage wussten wir nicht was geschehen war. 2 Tage wegschieben, wegdrücken, hoffen, bangen, ignorieren.
Und irgendwann dann der Anruf. Der Schock.
Rausgehen. Der Sprint.
Erst auf dem Feld allein die erste Reaktion. Zusammenkrampfen. Versteifen. Hypeventilation. Weinkrämpfe. Zittern. Erstickte Schreie. Völlige Hilflosigkeit. Panik. Adrenalinausstoß.
Anrufe.

Bild: (C) Privat
(C) privat

Erster Anruf. Meinen Bruder sprechen. Ich konnte nicht zu lassen, dass er es auch von meinem Stiefvater erfährt. Ich stehe meinem Bruder so viel näher als mein Stiefvater meinem Bruder. Seine Ungläubigkeit spiegelt meine wieder. Wir beide suchen nach Argumenten diese Aussage meines Stiefvaters zu wiederlegen. Suchen nach Missverständnissen. Wir verabreden einen Treffpunkt.

Zweiter Anruf. Dieser Anruf ist deutlich aufgewühlter und verzweifelter und freier in meiner Reaktion. Ich spreche mit meinem Lebensgefährten. Es fließen nicht mehr nur Fakten aus meinem Mund sondern Fluten von Emotionen. Er versucht mich zu beruhigen. Er hört meine hektische, verängstigte, aufgeregte Atmung. Er sagt, ich solle auf mich aufpassen, in einem Moment in dem ich mein selbst gar nicht spüren kann. Diese Mahnung von ihm hilft mir sehr. Ein weiteren Notfall braucht heute wirklich keiner.

Mein Mutter ist bereits der weitere Notfall. Zumindest glaube ich das in diesem Moment aufrichtig. Sie ist panisch und bricht beim Anblick jedes neuen Gesichts im Raum in lautes Schluchzen aus. Die Traumatologin beobachtet mein Zögern meine Mutter zu beruhigen und spricht mich an. Sie rät mir meine Mutter mit nach Hause zu nehmen, da hier im Krankenhaus nichts für sie getan werden könne. Sie sei gesundheitlich stabil. Ich nicke ungläubig, da diese Information zu Nichts in diesem Raum zu passen scheint. Die ganze Familie ist hier. Alle sind besorgt um meine Mutter, ich auch. War das nur ihre erste Reaktion im Schock?! War dieser bereits vorbei?? Ich hatte noch nie jemanden in einem Schockraum besucht, daher fand ich mich mit allem ab, auch dieser Anweisung. Es war mir im Prinzip auch egal. Zu wissen, das meine Mutter lebt, reichte mir zu diesem Zeitpunkt völlig.

Ich hatte meinen Vater verloren und konnte gar nichts greifen. Keiner von uns wusste von einer Vorerkrankung, auch keiner psychischen Vorerkrankung. Es ergab einfach keinen Sinn.

Erst die Polizisten geben mir einen Sinn hinter den Sprachfetzten, Aussagen Dritter und Emotionsfluten. Sie haben sein Auto gefunden. Seinen Leichnahm hat die Stadt B. vor zwei Tagen eingesammelt. Vor zwei Tagen hat die Lebensgefährtin meines Bruders an der Haltestelle gestanden und wegen eines Personenschadens auf ihre verspätete S-Bahn nach Hause warten müssen. Die Puzzelteile lagen da, es brauchte Wochen bis ich sie zusammensetzen, geschweige denn fassen konnte. Die Polizei hat die ersten Puzzelteile bereits zusammengesetzt und ahnt ein Bild, um es zu bestätigen bitten sie mich jetzt um Haare und Speichelproben in Form meines Vaters Bademantels und seiner Zahnbürste. Sie erklären uns wo sein Auto steht und das sie es sehen müssen um ggf. Beweise zu sichern. Um eine Fremdeinwirkung auszuschließen, haben die Polizisten das Auto im Beisein meines Bruders und mir aufgeschlossen und Spuren gesucht. Sein Handy und sein Geldbeutel waren im Auto. Er trug wohl nur seinen Schlüssel bei sich, daher die Verzögerung der Identifizierung der Leiche.

Dein Todestag war zwei Tage vergangen und wir alle haben uns die verrücktesten Szenarien ausgemalt. Hat er sich abgesetzt? Hat er meinen Großvater spontan drei Bundesländer also 443 Km entfernt besucht? Hatte er einen Unfall auf dem Weg dahin? Gab es in der neu gefundenen WG Streit? Wollte er nur abtauchen bis sich die Lage entspannte? Keines unserer ausgedachten Szenarien hatte darin geendet, dass er verstorben sein könnte. Geschweige denn, dass er sich selbst das Leben genommen hat.

Es ist seltsam in dieser Situation zu sein. Wenn dein Leben sich Stunden lang nicht wie dein Leben, sondern ein verkappter Spielfilm anfühlt. Als wäre ich gar nicht wirklich hier und hoffe aufzuwachen. Die Polizisten geben uns einen Termin zur Befragung des näheren Umfelds, also den Kindern und seinen Mitbewohnern (seine Ex-Frau und ihrem Ehemann).


Wenn ich also den 29.1.2019, deinen Todestag, Tribut zolle, fühlt es sich irgendwie falsch und veschoben an. Für mich warst du erst am 31.1.2019 tot. Und allein dieser Umstand beschämt mich in meiner Familienehre. Zwei Tage zwischen deinem Todestag und unserer Trauer um dich. Gibt es etwas das sich falscher anfühlt neben diesem Fakt? Und deinem Suizid?

Du bist zwei Jahre Tod und ich verkrampfe sowohl an jedem 29.1. als auch jedem 31.1. Das wiederkehrende schlechte Gewissen deiner Todesursache wird durch solche Umstände nur weiter befeuert.

Ich könnte eine neue Tradition einführen. Am 29.1. das Waldstück an den Gleisen entlang spazieren. Und am 31.1. zu deinem Grab gehen, ein Gebet sprechen, dir Blumen bringen.

Ich hatte mich heute völlig verausgabt bei meinem Waldspaziergang. Ich will heute und morgen einfach niemanden sehen. Vielleicht bringe ich dir nächste Woche Blumen, wenn die Blumen der Verwandschaft das welken beginnen und meine Erkältung völlig abgeklungen ist.

Du spukst mir doch sowieso im Spiegelbild zu. Wenn ich mich auf einzelne meiner Gesichtzüge (z.B. die dicken Augenbrauen oder die dunklen Haare) konzentriere, sehe ich Teile von dir in mir weiterleben.

31.1.2021 | 1

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Donnerstag, 18. März 2021
2. Todestag - Waldstück vs. Friedhof
Heute ist der zweite Todestag meines Vaters. Ich wollte aktiv meinem Vater an diesem Tag gedenken, aber ich wollte nicht an sein Grab. Die Vorstellung unter meiner jetzigen Anspannung auch nur einen meiner Verwandten zu treffen war mir zu viel. Also beschloss ich einen alternativen Weg zu beschreiten.

Ich habe mich erstmals seinem Todesort genähert. Es handelt sich um ein Waldstück in der Nähe einer, der Polizei bekannten, Gleiskurve. Diese Kurve ist unter Suizidanten beliebt, weil der Schaffner an dieser Stelle mit relativ schlechter Sicht seinen Zug beschleunigen muss und d.h. er kann nicht rechtzeitig bremsen, sobald er jemand oder etwas auf dem Gleis sieht. Mein Vater wusste das. Er war schon immer wissbegierig. Je mehr ihn etwas interessierte, je bessesener sog er das Wissen rundherum auf. (Wer weiß wo man so etwas nachliest.)

Jedenfalls habe ich schon damals beim Abholen seines zurückgelassenen Autos in dem Waldstück beschlossen, eines Tages diese Gleisstelle aufzusuchen. Sie mir wenigstens aus der Ferne anzusehen um es besser zu verstehen.

Ich vermute ich war dieser Stelle heute sehr sehr nahe. Obwohl diese Gleise fast gerade aussehen und ich mit bloßem Auge nicht sagen kann, ob es sich um diese langezogene Kurve handelt.

Die Gegend war so schön, dass ich anfangs fast vergass warum ich hier war. Aber als ich meinen Orientierungspunkt, ein Teich in der Nähe der Gleise, antraf wurde mir ein wenig mulmig. Der Kommisar meinte bereits, es sei nicht ganz einfach diese Böschung auf die Gleise runterzukommen.

Bild: (C) Privat
(C) privat

Mich trieb die Neugier, die vielen Fragen, die vielen Warums. Ich weiß nicht was ich hier finden wollte, aber ich wusste das es dort nicht sein würde. Und doch ging ich. Ich sah den Hang und wollte umkehren. Ich konnte nicht. Ich taxierte die Gegend. Ich fand einen weniger steilen Abhang/Abgang fern ab von jedem Wald- oder Betonweg und nahm den Abhang. Ich kam den Gleisen sehr sehr nah. Ich stand nur wenige Kletterschritte von den Gleisen entfernt. Sie sahen so gerade aus. War es die Stelle? Der Tag war Wolkenverhangen und natürlich wurden die Wolken dichter, kaum das ich hier und jetzt 'darüber' grübelte.

Ich bewegte mich vorsichtig. Es lag viel Laub auf dem Boden und es waren einige verregnete Tage vergangen. Also nahm ich mir ein Stock als Wanderstütze für mehr Halt. Ich war wie fremd getrieben. Ich wollte die Gleise sehen. Das mulmige Gefühl nahm zu und dennoch passierte nichts. Ich stand da, Mitten im Grünen und fragte mich erneut: Was suche ich hier? Was mache ich hier eigentlich?

Als ich einen Mann traf zuckte ich zusammen. Die ganze Zeit beschlich mich die Angst jemanden bei seinem letztem Gang zu erwischen, zu stören, zu behindern.
Wie soll man darauf reagieren? Was soll man da sagen?
"Tun Sie's nicht!", "Das Leben ist schön.", "Beenden sie nur diesen Lebensabschnitt. Setzen Sie sich doch irgendwo ab und fangen von Vorne an."... Ich weiß es nicht. Es gibt kein Rezept von richtigen Worten dagegen.

Erst als ich merkte, dass es ein ernst drein blickender Mann um die 40 oder 50 war, der aussah als könne er austeilen, fiel mir auf, dass mir hier draussen, ab vom Schuss, auch wer weiß was passieren könnte.

Kurz: Ich war in einem Drittel der Zeit wieder oben als die Zeit, die ich runter brauchte. Irrational. Es ist nichts passiert.

Es sind 2 Jahre bzw. 1 Jahr und 363 Tage vergangen und ich weiß nicht warum ein Mensch das je tun sollte. Ich bin zerbrochen in mein Leben und doch war ich nie soo am Ende, um mir so einen Gedanken zu Herzen zu nehmen. Mein Lebenswille hat schläge abbekommen, aber er war nie so zerrütet.

Bis heute kann ich es einfach nicht nachempfinden. Verstehen ansatzweise.
Nachempfinden absolut nicht.

Ich vermute das wird sich nie ändern. Hoffentlich.

29.1.21 | 2

Bild: (C) Privat

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Donnerstag, 11. März 2021
Scham: Vergleich Suizid versus Natürlicher Tod
Mir war nicht klar wie schwer es mir fallen würde Antworten auf überschaubare 13 Trauerkarten zu schreiben. Ganze zwei Tage meines Weihnachtsurlaubs habe ich hierfür benötigt. Manche Beileidskarten wirken nüchtern, klingen wie Anstandsgesten, manche Karten hingegen sind extrem persönlich und schmerzhaft zu lesen. Auf letztere angemessen zu antworten fühlt sich an wie ein Drahtseilakt. Aber ich habe schon immer mein Herz auf der Zunge getragen. Daher sind die Antworten hierauf auch persönlicher ausgefallen. Mit einer handvoll Eckdaten zum Todesfall selbst und einem Hauch meiner persönlichen Gefühle gespickt. Auch wenn ich alle Schreiben in Sie Form verfasst habe, spüre ich die Nähe der Absender zu meinem Großvater. So sehr ich mich davor gesträubt habe die Briefe überhaupt zu öffnen, so erleichtert war ich nach dem ersten Lesen.

Dieser Trauerfall schmerzt anders. Nach meines Vaters Suizid fühlt sich der Trauerfall meines 96 jährigen Großvaters nur noch wie ein Spaziergang durch unwegsames Waldgelände, wohingegen sich der Weg bei meinem Vater anfühlte wie Märsche an Märsche gereiht durch den Dschungel, die Savane, die Arktis und die Tundra. Das eine ist anstrengend, aber erträglich, das andere treibt einen ans Limit seiner Kräfte und darüber hinaus und lässt nicht viel von einem selbst übrig.

Vielleicht stumpft man auch ab mit jedem Todesfall. Vielleicht baut man schneller Schutzmauern und lässt es nicht so leicht an sich ran. Vielleicht liegt es an der eher dünn gesähten Präsenz meines Großvaters in meinem Alltag der letzten Jahre. Vielleicht bin ich einfach nur stärker oder gefestigter in meinem Charakter als früher. Ich weiß es nicht.

Ich weiß nur, dass es mir diesmal leichter fällt damit umzugehen und darüber zu reden. Ausgerechnet deswegen schäme ich mich ein wenig. Ich habe meinen Großvater geliebt und er war wichtig für mein Verständnis meiner Herkunft, meiner Familiengeschichte und auch sehr sehr wichtig für viele meiner Grundwerte, ja selbst meine Verbundenheit und Freude am Backen, an Literatur, an der Natur und mein stark ausgeprägter Hang zur Gewissenhaftigkeit. Sehr vieles in mir ergab erst richtig Sinn, nachdem ich meinen Großvater als Menschen kennenlernte und nicht bloß als meine liebste Vorlesestimme von Märchenbüchern. Seine baßlastige Stimme, sein Talent stimmen nachzuahmen und sein Gefühl für Pointen hoben ihn einfach über alle anderen Vorleser ab, die ich je kannte als Kind.

Ich verzeihe mir diese Scham zu meine Trauer.
Es ist einfach wahr. Ein natürlicher Tod schmerzt mich weniger als ein unnatürlicher und gewaltsamer Tod. Wertungsverbote hin oder her.

5.1.21

Foto: Simon Berger | unsplash.com
https://unsplash.com/photos/DZi0rnYrpWc

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Montag, 16. November 2020
Loslassen
VISUAL STATEMENTS · 27. April 2020
Bild: VISUAL STATEMENTS · 27. April 2020

Dieses Zitat stammt von John Coffey aus dem Film "The Green Mile" 1999. Ein gesunder Mensch versteht die Todessehnsucht eines Suizidanten nicht, aber wenn man seinen/ihren Schmerz erkennt und verstehen lernt, kann man vielleicht seine/ihre Entscheidung irgendwann verzeihen.

Meine Vergebung hat die Trauer um meinen Vater immens erleichtert. Auch wenn ich manchmal vorrübergehend wieder rückfällig und wütend über seine Entscheidung werde. Es gibt für mich bei dem Thema kein Schwarz oder Weiß, nur unendlich viel Grau.

9.11.20

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Donnerstag, 12. November 2020
Der "perfekte" Abschiedsbrief
Wenn alles gesagt wurde, gibt es nicht viel zu ergänzen, geschweige den abzuschließen.

"Danke! Entschuldigung! Tschüss!"
(C) Netflix

aus: "Das letzte Wort" (Staffel 1 Folge 5),
Serienschöpfer: Thorsten Merten,
Autoren: Aron Lehmann und Carlos V. Irmscher,
Produktion: Dan Maag, Daniel Sonnabend
(C) Netflix | Pantaleon Films, 2020 Deutschland

Jede Suizidgeschichte von der ich seither erfahren habe, die einen Abschiedsbrief enthält, endete mit demselben Schmerz und derselben Verwirrung und derselben Trauer wie die Suizidgeschichten ohne Brief.
Anfangs habe ich in den Fakt des fehlenden Abschiedsbriefs so viel hinein interpretiert. Heute weiß ich, dass kein Abschiedsbrief bei klarem Verstand, bei gesunder Psyche, mit reinem Herzen geschrieben wurde. Ein kranker Mensch ist am Ende seines Kampfes nicht mehr derselbe wie vorher und kann gar nicht äußern wie er/sie sein/ihr Leben abschließend findet. Es ist unfassbar schwer bis zu unmöglich sich das vorzustellen. Allein deswegen sollten wir die einzelnen Worte eines solchen Briefes nie auf die Goldwaage legen. Es wäre nicht fair gegenüber der/dem Verstorbenen.

12.11./19.10.20 | 1


Musiktipp zum Thema:
"The perfect way to die" Musik-Video von Alicia Keys

Alicia Keys beschreibt ihr Lied auf Instagram: „Dieser Liedtitel ist so kraftvoll und herzzerreißend, weil WIR untröstlich sind um so viele, die ungerechtfertigt gestorben sind. Natürlich gibt es KEINE perfekte Art zu sterben. Dieser Satz ergibt nicht einmal einen Sinn.“

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