Montag, 3. Februar 2020
Selbsthilfegruppe
anna mestisa, 16:03h
Wer keine Vorurteile gegenüber Selbsthilfegruppen hat, schaut keine Filme und keine Serien im Fernsehen oder im Kino.
Auch Dokumentation über Krankheitsbilder mit Gruppentherapien oder Selbsthilfegruppen bringen einem nicht bei wie es sich tatsächlich anfühlt selbst in so einer Gruppe Platz zu nehmen.
Es ist etwas völlig anderes ein ernsthaftes Problem zu haben und selbst auf der Suche nach Hilfe und Gleichgesinnten zu sein als wenn man so etwas nur hört oder erzählt bekommt.
Jede Art der Selbsthilfegruppe sollte die Chance auf Verständnis, Austausch und Trost sein. Damit dies allerdings irgend möglich ist, muss man als Teilnehmer diesen Weg auch gehen wollen und man muss sich schlichtweg einbringen.
Das Stigma das solch einer Selbsthilfegruppe einhergeht vergisst man schnell, sobald das Hilfsgefühl einsetzt.
Als ich vor einem halben Jahr um Zutritt in die Trauergruppe für Trauernde nach Suizid bat, wurde mir diese nach einem längeren Telefonat mit einer der Gruppenleiter auch sofort gewährt. Wir hatten am Telefon eine Stunde mein Interesse an der Gruppe, über meinen Verlust und meine Fragen sowie die herrschenden Umgangsregeln gesprochen. Trotz der Fremdheit zu meiner Gesprächspartnerin habe ich sofort das Verständnis einer erfahrenen Gleichgesinnten gespürt. Von Beginn an hatte ich ein gutes Gefühl trotz meiner gemischten Erwartungen.
Jeder in der Gruppe kennt den Verlustschmerz und weiß um die Ernsthaftigkeit und Sensibilität des Themas um einen offenen wertungsfreien Dialog zu führen.
Aber auch wir vergessen selten, aber manchmal die wichtigste Regel in der Gruppe: Vergleiche und negative Wertungen zu unterlassen. Aber man merkt schnell weshalb das undiplomatisch ist.
In meiner Trauergruppe sind ca. 30 Personen angemeldet. Es sind alle Arten von Betroffenheit in der Gruppe vertreten: der/die Suizidant war Lebensgefährte/in, Elternteil, Geschwister oder Kind. Jeden Monat folgt eine Woche vorm Termin eine Einladung der zwei Gruppenleiter auf die man nach Bedarf für ein Treffen zu- oder absagt. Bei einem Treffen sind zwischen 7 bis 15 Personen anwesend. Das Treffen dauert i.d.R. knapp 2 Stunden.
In meiner Selbsthilfegruppe leiten zwei Betroffene, ohne psychologische Vorbildung, aber mit Gruppenleiterschulung, Gleichgesinnte auf Augenhöhe durch diese Treffen.
Die zwei Gruppenleiter richten den Raum in einer sozialen Einrichtung ein, d.h. Stuhlkreis aufstellen, lüften, Dekor-Schale mit Sand und Kerzen in die Mitte, kostenloser Sprudel sowie Gläser bereit stellen und die Bibliothek zum Thema mit Leihbüchern und kostenlosen Broschüren zum mitnehmen aufstellen.
Am Anfang stellen sich alle mit Vornamen vor (es duzen sich hier alle), sagen um wen sie trauern und wenn man möchte wie die/derjenige starb z.B. "Ich heiße Anna. Mein Vater hat sich das Leben auf den Gleisen genommen".
Durch diesen Einstieg kehrt immer eine gewisse Ernsthaftigkeit im Raum ein. Je nach Tagesstimmung fällt mir das Aussprechen dieses Satzes noch immer schwer.
Beim ersten Treffen wollte ich mich zurückhalten mit meiner Meinung und das Geschehen auf mich wirken lassen um mir ein Bild davon zu machen wie sich andere hier austauschen. Aber von Beginn an habe ich ein tiefes Vertrauen in die Betroffenheit dieser völlig fremden Personen gespürt und mich eingebracht. Der pure vertraute Schmerz jedes Einzelnen ist zu spüren im Gespräch. Es ist als ob man hier eine Fassade ablegen darf. Hier sind Mitglieder, die ganz frisch oder seit Jahren ein Mal monatlich über ihre Trauer und ihren Umgang mit dieser völlig vorwurfsfrei und natürlich sprechen.
Denn egal wie unterstützend das eigene soziale Umfeld ist, jeder hier hat erlebt wie es ist bei jemandem an die Grenzen dessen unbetroffenen Geduld zu stoßen. Wer es nicht selbst erlebt hat, kann irgendwann das Thema Suizid nicht mehr unbefangen hören. Das ist völlig verständlich, aber auch sehr frustrierend als Betrofffene/r. Ich möchte keineswegs ständig negative Gesprächsthemen anschneiden, aber es handelt sich um ein Familienmitglied. Das Thema ist für immer mit meinem Leben verbunden. So geduldig und verständnisvoll meine Freunde mit mir sind, sie kennen den Schmerz nicht. Sie können nicht unermesslich viel Geduld für dieses Thema Suizid aufbringen. Das ist absolut in Ordnung. Ich selbst will nicht immer zu das Gefühl haben ihnen Umstände zu bereiten.
Aber irgendwo müssen diese Gedanken und Gefühle sich Gehör verschaffen und in der Gruppe habe ich stetig diesen völlig freien Raum und ein ungewöhnliches Vertrauen in die Intimität der Teilnehmer. Keiner geht raus aus der Gruppe und wird von mir mit Namen und Alter mein Schicksal ausplaudern. Es ist ein Grundvertrauen unter Betroffenen das diese Treffen unbezahlbar macht. Mensch sein in Reinkultur.
Manchmal bringt ein Mitglied ein Thema mit in die Runde, manchmal regt der Gruppenleiter zu einem Thema das Gespräch an. Das fällt sehr unterschiedlich aus, aber führt immer zu einem Dialog. Häufig fließen Tränen, weil die Gefühle so tiefgreifend sind. Jedes Mal stößt man hier auf Verständnis und Taschentücher. Die Gruppenleiter moderieren diesen Gruppendialog u.a. mit belegten Fakten und Statistiken zu Betroffenenzahlen, studierten Verhaltensmustern oder geschichtlichen Hintergründen oder sprachlichen Entwicklungen. Diese Fakten geben einem oft eine gewisse Bodenhaftung zu den teils unlogischen Gefühlswelten des Themas. Oft traut man sich selbst kaum bis man die Zahlen und Fakten das erste Mal hört.
Zum Beispiel habe ich hier erfahren, dass Suizid keine gesellschaftlich beschränkte Todesart ist. Es gibt reiche wie arme Suizidanten, junge wie alte Suizidanten, männlich wie weibliche Suizidanten, durch alle Kulturen und alle Epochen hindurch Suizidanten.
Und in dieser Runde gibt es das Angebot nach dem Treffen im Anschluss etwas trinken bzw. essen zu gehen in einem beliebigem Lokal in der Nähe um den geführten Dialog mit dem freiwilligen Teil der Gruppe ausklingen zu lassen. Bei diesem "Abschlussgetränk" reduziert sich das Gesprächsthema nicht mehr nur auf "Suizid". Es wird über alles Mögliche darüber hinaus gesprochen: vom Betroffenem, zum Leben des/der Verstorbenen, zum Alltag, Tagesgeschehen, Gesundheit und und und.
Diese Art von Problembewältigung ist nicht jedermanns Sache, aber mir hilft die Gruppe sehr und ich kann Programme wie diese nur weiterempfehlen.
27./29.1.20
siehe auch: Anlaufstellen
Bild: Zach Vessels | unsplash.com
Auch Dokumentation über Krankheitsbilder mit Gruppentherapien oder Selbsthilfegruppen bringen einem nicht bei wie es sich tatsächlich anfühlt selbst in so einer Gruppe Platz zu nehmen.
Es ist etwas völlig anderes ein ernsthaftes Problem zu haben und selbst auf der Suche nach Hilfe und Gleichgesinnten zu sein als wenn man so etwas nur hört oder erzählt bekommt.
Jede Art der Selbsthilfegruppe sollte die Chance auf Verständnis, Austausch und Trost sein. Damit dies allerdings irgend möglich ist, muss man als Teilnehmer diesen Weg auch gehen wollen und man muss sich schlichtweg einbringen.
Das Stigma das solch einer Selbsthilfegruppe einhergeht vergisst man schnell, sobald das Hilfsgefühl einsetzt.
Als ich vor einem halben Jahr um Zutritt in die Trauergruppe für Trauernde nach Suizid bat, wurde mir diese nach einem längeren Telefonat mit einer der Gruppenleiter auch sofort gewährt. Wir hatten am Telefon eine Stunde mein Interesse an der Gruppe, über meinen Verlust und meine Fragen sowie die herrschenden Umgangsregeln gesprochen. Trotz der Fremdheit zu meiner Gesprächspartnerin habe ich sofort das Verständnis einer erfahrenen Gleichgesinnten gespürt. Von Beginn an hatte ich ein gutes Gefühl trotz meiner gemischten Erwartungen.
Jeder in der Gruppe kennt den Verlustschmerz und weiß um die Ernsthaftigkeit und Sensibilität des Themas um einen offenen wertungsfreien Dialog zu führen.
Aber auch wir vergessen selten, aber manchmal die wichtigste Regel in der Gruppe: Vergleiche und negative Wertungen zu unterlassen. Aber man merkt schnell weshalb das undiplomatisch ist.
In meiner Trauergruppe sind ca. 30 Personen angemeldet. Es sind alle Arten von Betroffenheit in der Gruppe vertreten: der/die Suizidant war Lebensgefährte/in, Elternteil, Geschwister oder Kind. Jeden Monat folgt eine Woche vorm Termin eine Einladung der zwei Gruppenleiter auf die man nach Bedarf für ein Treffen zu- oder absagt. Bei einem Treffen sind zwischen 7 bis 15 Personen anwesend. Das Treffen dauert i.d.R. knapp 2 Stunden.
In meiner Selbsthilfegruppe leiten zwei Betroffene, ohne psychologische Vorbildung, aber mit Gruppenleiterschulung, Gleichgesinnte auf Augenhöhe durch diese Treffen.
Die zwei Gruppenleiter richten den Raum in einer sozialen Einrichtung ein, d.h. Stuhlkreis aufstellen, lüften, Dekor-Schale mit Sand und Kerzen in die Mitte, kostenloser Sprudel sowie Gläser bereit stellen und die Bibliothek zum Thema mit Leihbüchern und kostenlosen Broschüren zum mitnehmen aufstellen.
Am Anfang stellen sich alle mit Vornamen vor (es duzen sich hier alle), sagen um wen sie trauern und wenn man möchte wie die/derjenige starb z.B. "Ich heiße Anna. Mein Vater hat sich das Leben auf den Gleisen genommen".
Durch diesen Einstieg kehrt immer eine gewisse Ernsthaftigkeit im Raum ein. Je nach Tagesstimmung fällt mir das Aussprechen dieses Satzes noch immer schwer.
Beim ersten Treffen wollte ich mich zurückhalten mit meiner Meinung und das Geschehen auf mich wirken lassen um mir ein Bild davon zu machen wie sich andere hier austauschen. Aber von Beginn an habe ich ein tiefes Vertrauen in die Betroffenheit dieser völlig fremden Personen gespürt und mich eingebracht. Der pure vertraute Schmerz jedes Einzelnen ist zu spüren im Gespräch. Es ist als ob man hier eine Fassade ablegen darf. Hier sind Mitglieder, die ganz frisch oder seit Jahren ein Mal monatlich über ihre Trauer und ihren Umgang mit dieser völlig vorwurfsfrei und natürlich sprechen.
Denn egal wie unterstützend das eigene soziale Umfeld ist, jeder hier hat erlebt wie es ist bei jemandem an die Grenzen dessen unbetroffenen Geduld zu stoßen. Wer es nicht selbst erlebt hat, kann irgendwann das Thema Suizid nicht mehr unbefangen hören. Das ist völlig verständlich, aber auch sehr frustrierend als Betrofffene/r. Ich möchte keineswegs ständig negative Gesprächsthemen anschneiden, aber es handelt sich um ein Familienmitglied. Das Thema ist für immer mit meinem Leben verbunden. So geduldig und verständnisvoll meine Freunde mit mir sind, sie kennen den Schmerz nicht. Sie können nicht unermesslich viel Geduld für dieses Thema Suizid aufbringen. Das ist absolut in Ordnung. Ich selbst will nicht immer zu das Gefühl haben ihnen Umstände zu bereiten.
Aber irgendwo müssen diese Gedanken und Gefühle sich Gehör verschaffen und in der Gruppe habe ich stetig diesen völlig freien Raum und ein ungewöhnliches Vertrauen in die Intimität der Teilnehmer. Keiner geht raus aus der Gruppe und wird von mir mit Namen und Alter mein Schicksal ausplaudern. Es ist ein Grundvertrauen unter Betroffenen das diese Treffen unbezahlbar macht. Mensch sein in Reinkultur.
Manchmal bringt ein Mitglied ein Thema mit in die Runde, manchmal regt der Gruppenleiter zu einem Thema das Gespräch an. Das fällt sehr unterschiedlich aus, aber führt immer zu einem Dialog. Häufig fließen Tränen, weil die Gefühle so tiefgreifend sind. Jedes Mal stößt man hier auf Verständnis und Taschentücher. Die Gruppenleiter moderieren diesen Gruppendialog u.a. mit belegten Fakten und Statistiken zu Betroffenenzahlen, studierten Verhaltensmustern oder geschichtlichen Hintergründen oder sprachlichen Entwicklungen. Diese Fakten geben einem oft eine gewisse Bodenhaftung zu den teils unlogischen Gefühlswelten des Themas. Oft traut man sich selbst kaum bis man die Zahlen und Fakten das erste Mal hört.
Zum Beispiel habe ich hier erfahren, dass Suizid keine gesellschaftlich beschränkte Todesart ist. Es gibt reiche wie arme Suizidanten, junge wie alte Suizidanten, männlich wie weibliche Suizidanten, durch alle Kulturen und alle Epochen hindurch Suizidanten.
Und in dieser Runde gibt es das Angebot nach dem Treffen im Anschluss etwas trinken bzw. essen zu gehen in einem beliebigem Lokal in der Nähe um den geführten Dialog mit dem freiwilligen Teil der Gruppe ausklingen zu lassen. Bei diesem "Abschlussgetränk" reduziert sich das Gesprächsthema nicht mehr nur auf "Suizid". Es wird über alles Mögliche darüber hinaus gesprochen: vom Betroffenem, zum Leben des/der Verstorbenen, zum Alltag, Tagesgeschehen, Gesundheit und und und.
Diese Art von Problembewältigung ist nicht jedermanns Sache, aber mir hilft die Gruppe sehr und ich kann Programme wie diese nur weiterempfehlen.
27./29.1.20
siehe auch: Anlaufstellen
Bild: Zach Vessels | unsplash.com
... comment