Montag, 20. April 2020
Suizid: Selbstmord, Freitod und andere Umschreibungen
"Eine völlig wertneutrale Beurteilung eines Suizids ist wohl nicht möglich. Dazu geht es zu sehr an existenzielle Fragen und auch Tiefen des Menschen. Dennoch sollte im Sprachgebrauch darauf geachtet werden, dass durch bestimmte Begriffe keine unterschwellige Verurteilung mitschwingt.

Der Begriff Selbstmord drückt aus, dass es sich um einen Mord und damit um eine Straftat handelt. Über Jahrhunderte wurden Suizididenten so hauptsächlich als Täter und nicht als Opfer gesehen, was dementsprechend auch geahndet wurde: seitens der Kirchen wurden Suizididenten außerhalb des Friedhofs ohne Beisein des Pfarrers beerdigt und nach außen hin wurde der Suizid oftmals als eine plötzlich auftretende unheilbare Krankheit dargestellt. So erging es auch noch Hape Kerkeling, dessen Mutter sich 1973 das Leben nahm, als er acht Jahre alt war. Ihr Tod wurde als Hirnschlag deklariert.

Vor allem im Zuge von Amérys Forderung eines Rechts auf den eigenen Tod, hat sich der Begriff Freitod entwickelt. Doch auch hier gilt es kritisch anzumerken, ob der Mensch in der Situation des Suizids auch wirklich frei oder willig war. Der Begriff Freitod wird somit der psychischen Realität des Suizidenten, die in den allermeisten Fällen von Verzweiflung, dem Gefühl der Ausweglosigkeit, der Unfähigkeit zur sachlichen Werterfassung und der Einengung des emotionalen wie intellektuellen Wahrnehmungsvermögens bestimmt ist, nicht gerecht. Oft kommt der gefühlte Zustand eines drangvollen, inneren Zwangs hinzu.

Anstelle der Begriffe Selbstmord oder Freitod, die entweder negativ-moralisierend oder fast schon glorifizierend wirken, empfiehlt AGUS die Verwendung von Suizid oder Selbsttötung als wertneutrale Begriffe. Suizid kommt vom lateinischen "sui cadere" und bedeutet wörtlich übersetzt "sich selbst fällen". Im alltäglichen Sprachgebrauch wirkt dieser Begriff allerdings für viele noch fremd oder auch gekünstelt. Vielfach hört man daher auch Umschreibungen wie "sich etwas antun" oder "sich das Leben nehmen", was vielleicht auch ein Ausdruck dafür sein kann, dass eine gewisse Scheu vorhanden ist, sich mit dem Geschehenden auseinanderzusetzen. Gerade wenn Kindern der Suizid eines nahestehenden Angehörigen erklärt wird, sollte aber unbedingt auf umschreibende Wörter wie "eingeschlafen" oder "weggegangen" verzichtet werden, da die Kinder dadurch verwirrt werden könnten. Dazu ein Beispiel: Eine Mutter, die ihrem sechsjährigen Sohn nichts vom Suizid des Vaters sagen möchte, sondern es mit den Worten er ist eingeschlafen umschrieben hat, hat Schlafstörungen und sagt zu ihrem Sohn völlig unbedacht: „Ich kann einfach nicht einschlafen.“ Was mag der Sechsjährige da wohl denken?"

aus: Jörg Schmidt Trauer nach Suizid – (k)eine Trauer wie jede andere, AGUS-Schriftenreihe: Hilfen in der Trauer nach Suizid, Herausgeber: AGUS e.V. Bundesgeschäftsstelle, Bayreuth, überarbeitete Neuauflage 9/2018

gefunden 15.4.20

Bild: Sushuti | pixabay.com
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Donnerstag, 26. März 2020
Suizid: Warnzeichen
"Suizid Mythos: Die Mehrheit aller Suizide geschehen plötzlich ohne Warnung

In Wahrheit: Warnzeichen ob verbal oder verhaltensmäßig gehen den meisten Suiziden voraus, daher ist es wichtig die Warnzeichen, die mit Suizid verbunden werden, zu erkennen und zu verstehen. Viele Personen, die Suizid gefährdet sind, mögen nur nahestehenden Personen Warnzeichen geben. Diese Personen mögen diese Warnzeichen nicht als Tatsachen erkennen oder können sie nicht erkennen.

Warnzeichen die mit Suizid in Verbindung gebracht werden:
• sich gefangen oder hoffnungslos fühlen oder wirken
• unerträglichen emotionalen Schmerz verspüren
• vorherrschende Gedanken mit Gewalt, Sterben oder Tod haben oder scheinen zu haben
• Stimmungsschwankungen haben (glücklich oder traurig)
• über Rache, Schuld oder Scham sprechen
• aufgewühlt sein oder gesteigerte Angstzustände haben
• Veränderung der Persönlichkeit oder Schlafstörungen wahrnehmen
• Drogen oder Alkohol vermehrt als sonst konsumieren, oder überhaupt trinken, wenn sie vorher nicht getrunken haben
• Gefährliches Verhalten einnehmen wie rücksichtloses Fahren oder Drogenkonsum
• Geschäfte und Angelegenheiten regeln und Dinge verschenken
• Sich eine Waffe, Medikamente oder Substanzen besorgen, die ein Leben beenden können
• Depressionen, Panikattacken oder beeinträchtigte Konzentration erleiden
• Zunehmende Isolation
• Darüber sprechen eine Last für andere zu sein
• Psychomotorische Aufregung wie im Raum hin und her laufen, Hände ringen, Kleidungsstücke aus- und anziehen
• Sich von anderen verabschieden, als wäre es für immer
• Unfähig sein oder so wirken als ob man schöne Gefühle nicht mehr spüren kann bei gewöhnlichen vergnüglichen Aktivitäten wie Essen, Trainieren, soziale Kontakte, Sex
• massive Reue oder Selbstkritik
• über Suizid, Sterben oder Reue sprechen, Reue ausdrücken übers lebendig sein oder je geboren worden zu sein"

aus: Kristen Fuller, M.D., Common Myths About Suicide Debunked, Psychology Today, 2020 Sussex Publishers, LLC
Übersetzung: Anna Mestisa

gefunden am 3.3.2020

weitere Hinweise:
Suizidprävention: Hinweise erkennen und beachten

Darauf reagieren:
Freund mit Depression / Selbstmordgedanken helfen

Bild: Josch13 | pixabay.com
https://pixabay.com/de/photos/lilie-bl%C3%BCte-blume-wei%C3%9F-lila-punkte-227166/

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Montag, 16. März 2020
Suizid: Der egoistische Ausweg?
"Suizid Mythos: Leute, die sich umbringen sind selbstsüchtig und machen es sich leicht

In Wahrheit: Personen die sich umbringen tun es nicht, weil sie nicht leben wollen oder ihre Leben beenden wollen, sondern weil sie ihr Leiden beenden wollen. Diese Personen leiden so tiefgründig, dass sie sich hilflos und hoffnungslos fühlen. 'Sich selbst umbringen ist in jedem Fall eine Fehlbezeichnung. Wir bringen nicht uns selbst um. Wir werden einfach besiegt vom langen schweren Ringen am Leben zu bleiben. Wenn jemand nach einer langen Erkrankung stirbt, sagen die Leute mit einem zustimmenden Ton passender Weise: Er kämpfte so schwer. Und sie neigen dazu über einen Suizid zu denken, dass kein Kampf stattgefunden hat, dass jemand einfach aufgegeben hat. Das ist ziemlich falsch.' aus: Sally Brampton, Das Monster, die Hoffnung und ich - wie ich meine Depression besiegte 2009, Bastei Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach"

aus: Kristen Fuller, M.D., Common Myths About Suicide Debunked, Psychology Today, 2020 Sussex Publishers, LLC
Übersetzung: Anna Mestisa

gefunden am 3.3.2020

Bild: cdd20 | pixabay.com
https://pixabay.com/de/illustrations/fantasien-gewehre-kugeln-killer-4065825

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Donnerstag, 12. März 2020
Filmkritik: Bruder Jakob, schläfst du noch?
Österreich 2018 von Regisseur Stefan Bohun

Dieser Dokumentarfilm handelt von fünf erwachsenen Brüdern. Einer von ihnen hat sich das Leben genommen. Die überlebenden vier Brüder begeben sich auf die Spurensuche nach dem Warum um aktive Trauerverarbeitung zu betreiben, in dem sie gemeinsam an Jakobs Lieblingsort und weitere Stationen seines Lebens verreisen. Einer der Brüder ist Dokumentarfilmer und hat dieses Projekt ins Leben gerufen. Der Film beschäftigt sich überwiegend mit den Brüderbeziehungen.

Alle wichtigen Themen, die Hinterbliebenen von Suizidanten beschäftigt, werden hier angesprochen u.a. der letzte Kontakt, wie konnte es soweit kommem, die Frage nach dem Warum, Antworten zu den letzten Tagen des Suizidanten aus Kollegensicht, Einblicke ins Leben mit seiner Frau und seinen Kindern, seine Kindheitstraumas, Spuren der Anspannung vor dem letzten Schritt und mehr.

Ab Mitte des Films hatte ich so viele mehr Fragen zum Leben des Suizidanten und wusste die Antworten sind keine Antwort auf die erbarmungslose Hauptfrage: Warum.

Daher kann ich nur bestätigen diese Dokumentation gibt allen Unbetroffenen einen ganz realen tiefen Einblick in das Seelenleben der Hinterbliebenen ohne moralischen Zeigefinger und ohne Sentimentalität. Dabei schenkt der Film mit aktuellen und Kindheitsaufnahmen der Brüder immer zu wärmende Lichtblicke bei einem so ernsten und scheinbar ausschließlich trostlosem Thema.

Das Prädikat wertvoll trifft hier wahrhaftig zu.

21.2.2020


"Der Film ist auf eine schmerzvolle Weise persönlich und auf eine angemessene Weise diskret. Nur die Brüder zeigen sich ungeschützt, und man hat manchmal den Eindruck, dass sie auf diese Weise einen Kreis um Jakob ziehen, dass sie ihn in ihre Mitte nehmen, damit von diesem Tod kein weiteres Unheil ausgehen kann."

aus: Bert Rebhandl, Ein Dokumentarfilm als familientherapeutische Angelegenheit, 9.9.2018, STANDARD Verlagsgesellschaft m.b.H. 2020

Der offizielle Trailer zum Film:
Bruder Jakob, schläfst du noch? - Der Film

Bild: Mischief Films, ORF - Österreichischer Rundfunk

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Donnerstag, 5. März 2020
Der "richtige" Therapeut
"Woran erkenne ich, dass dies die richtige Therapeutin für mich ist?

Dabei ist es wichtig, auf den eigenen Eindruck zu achten:
• Beim ersten Anruf: Ist der Klang der Stimme des Therapeuten sympathisch?
• Im Gespräch: Nimmt er sich Zeit für mein Anliegen? Antwortet er ausführlich auf meine Fragen?
• Welche Ausbildung hat er? Wo liegt der Schwerpunkt seiner Arbeit?
• Hat er mit meinem Problem Erfahrung?
• Welche Form der Arbeit erwartet mich und was erwartet er von mir?
• Gibt er genügend Zeit, sich kennenzulernen?
• Wie lange dauert voraussichtlich die Therapie?
• Die ersten Stunden prüfen: Wie geht der Therapeut mit mir um?
• Die ersten Stunden prüfen: Fühle ich mich angenommen oder von ihm bedrängt?
• Die ersten Stunden prüfen: Wie reagiert er auf eventuelles Unwohlsein?"

Quelle: So finden Sie einen Psychotherapeuten. www.therapie.de

gesehen: 6.2.2020

Bild: 995645 | pixabay.com
https://pixabay.com/de/photos/lilie-zart-bl%C3%BCte-blatt-bl%C3%BCtenblatt-3859794/

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Montag, 2. März 2020
Suizid: Das Tabu
"Unsere kulturelle Geschichte hat bisher keinen humanitären Umgang mit dem Freitod hervorgebracht. Grund dafür könnte die weitgehende Verdammung des Suizids durch die drei großen Weltreligionen sein.

Auch wenn in der Bibel und Antike zunächst „neutral“ über Suizide berichtet wurde, führte im 5. Jahrhundert der Kirchenvater Aurelius Augustinus den Begriff „Selbstmörder“ ein. Die Selbsttötung wurde somit im Christentum moralisch dem Mord gleichgestellt. Ab dem 6. Jahrhundert wurde darüber hinaus dem Leichnam eines Selbstmörders das christliche Begräbnis verweigert. Koran und Talmud beziehen hingegen von Anfang an Stellung gegen die Selbsttötung.

Die enge mittelalterliche Verbindung von kirchlicher und staatlicher Macht führte in vielen Ländern Europas dazu, dass die kirchliche Verdammung des Suizids in Form von Strafandrohungen in staatliche Gesetze eingeflossen ist."


aus: Suizid und Suizidversuch trotz Tabuisierung vermeiden. www.therapie.de

gefunden 6.2.2020

Bild: Pexels | pixabay.com
https://pixabay.com/de/photos/koniferen-dunkel-tannen-nebel-wald-1836582/

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Samstag, 29. Februar 2020
Suizidprävention: Hinweise erkennen und beachten
"Krisen sind Teil unseres Lebens
»Eine Krise ist eine ernste, zeitlich begrenzte Störung
des seelischen Gleichgewichts, welche durch die üblichen
Gegenregulationsmechanismen nicht beseitigt werden kann.«
Gerald Caplan


Häufige Belastungssituationen, mit denen wir im Laufe des Lebens konfrontiert werden, sind
• Verlust einer nahe stehenden Person
• Ablösung vom Elternhaus
• Änderung der Lebensumstände (z.B. Heirat, Mutterschaft)
• Spannungen am Arbeitsplatz, Kündigung
• Arbeitslosigkeit
• Beziehungsprobleme
• Trennung und Scheidung
• Krankheit, Invalidität
• Pensionierung

Länger dauernde belastende Situationen können zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen und psychosomatischen Störungen führen.
Häufig sind
• Schlafstörungen
• Nervosität
• Ängste und Panikattacken
• Depressionen
• Substanzenmissbrauch"

aus: Suizidprävention - Ein Leitfaden für Beratende vom Suizid-Netz Aargau (PDF)

gefunden 6.2.2020

Darauf reagieren:
Freund mit Depression / Selbstmordgedanken helfen

Bild: Carlos Quintero | unsplash.com
https://unsplash.com/photos/KY9gFrTLHjk

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Samstag, 15. Februar 2020
Suizid in Zahlen
"Laut Agus e. V., einer deutschlandweiten Selbsthilfeorganisation für Suizidhinterbliebene, nehmen sich in Deutschland jedes Jahr etwa 10.000 Menschen das Leben. Damit sterben in Deutschland deutlich mehr Menschen durch Suizid als zum Beispiel aufgrund von Verkehrsunfällen, Mord, Drogen und HIV zusammen. Ungefähr 150.000 Suizidversuche gibt es jedes Jahr – verlässliche Studien fehlen jedoch. Die meisten Suizidversuche finden vor dem 25. Lebensjahr statt und damit sind Suizide nach Unfällen die zweithäufigste Todesursache in der Altersgruppe der 15- bis 25-Jährigen. Das Durchschnittsalter lag laut Statistischem Bundesamt 2016 für Frauen bei 58,4 und für Männer bei 57 Jahren.
Suizide tauchen in allen sozialen Schichten und Berufsgruppen auf[...]. Die Statistiken sagen, dass sich dreimal so viele Männer wie Frauen das Leben nehmen, die Rate bei versuchten Suiziden jedoch bei Frauen deutlich höher ist. Ab dem 60. Lebensjahr steigt die Rate noch einmal steil an, was auch mit einem höheren Krankheitsaufkommen zu tun hat.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO geht davon aus, dass jeder an Suizid Verstorbene etwa fünf bis sieben Angehörige hinterlässt, die mit dieser selbst gewählten Todesart zurechtkommen müssen. Das heißt, dass jährlich(!) in Deutschland 50.000 bis 70.000 Menschen direkt betroffen sind. In diesen Zahlen sind Arbeitskollegen nicht berücksichtigt, die jedoch ebenfalls häufig hilflos zurückbleiben und ebenfalls trauern. Und diese Trauer bleibt oftmals nicht nur ein Jahr präsent, sondern viele Jahre darüber hinaus."

aus: Petra Sutor, Trauer am Arbeitsplatz. Sprachlosigkeit überwinden - Fürsorgepflicht wahrnehmen Trauerkultur entwickeln, Patmos Verlag, Schwabenverlag AG, Ostfildern 2020, S.111


"Die Gründe, warum sich Menschen das Leben nehmen, sind sehr unterschiedlich. Unbestritten ist, dass fast immer eine schwere psychische Krise vorausgeht, die aber häufig nicht in ihrem lebensgefährlichen Ausmaß wahrnehmbar ist. Nicht alle Menschen, die sich das Leben nehmen, leiden an einer psychischen Erkrankung!"

"Nach unseren Erfahrungen hinterlassen etwa 60% der Suizidverstorbenen einen Abschiedsbrief."

aus: Jeder Suizid ist einer zuviel, AGUS e.V.

gefunden 10.2.2020

Bild: geralt | pixabay.com
https://pixabay.com/de/illustrations/zahlen-ziffer-nummer-f%C3%BClle-z%C3%A4hlen-1036469/

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Montag, 3. Februar 2020
Selbsthilfegruppe
Wer keine Vorurteile gegenüber Selbsthilfegruppen hat, schaut keine Filme und keine Serien im Fernsehen oder im Kino.
Auch Dokumentation über Krankheitsbilder mit Gruppentherapien oder Selbsthilfegruppen bringen einem nicht bei wie es sich tatsächlich anfühlt selbst in so einer Gruppe Platz zu nehmen.
Es ist etwas völlig anderes ein ernsthaftes Problem zu haben und selbst auf der Suche nach Hilfe und Gleichgesinnten zu sein als wenn man so etwas nur hört oder erzählt bekommt.
Jede Art der Selbsthilfegruppe sollte die Chance auf Verständnis, Austausch und Trost sein. Damit dies allerdings irgend möglich ist, muss man als Teilnehmer diesen Weg auch gehen wollen und man muss sich schlichtweg einbringen.
Das Stigma das solch einer Selbsthilfegruppe einhergeht vergisst man schnell, sobald das Hilfsgefühl einsetzt.

Als ich vor einem halben Jahr um Zutritt in die Trauergruppe für Trauernde nach Suizid bat, wurde mir diese nach einem längeren Telefonat mit einer der Gruppenleiter auch sofort gewährt. Wir hatten am Telefon eine Stunde mein Interesse an der Gruppe, über meinen Verlust und meine Fragen sowie die herrschenden Umgangsregeln gesprochen. Trotz der Fremdheit zu meiner Gesprächspartnerin habe ich sofort das Verständnis einer erfahrenen Gleichgesinnten gespürt. Von Beginn an hatte ich ein gutes Gefühl trotz meiner gemischten Erwartungen.
Jeder in der Gruppe kennt den Verlustschmerz und weiß um die Ernsthaftigkeit und Sensibilität des Themas um einen offenen wertungsfreien Dialog zu führen.
Aber auch wir vergessen selten, aber manchmal die wichtigste Regel in der Gruppe: Vergleiche und negative Wertungen zu unterlassen. Aber man merkt schnell weshalb das undiplomatisch ist.

In meiner Trauergruppe sind ca. 30 Personen angemeldet. Es sind alle Arten von Betroffenheit in der Gruppe vertreten: der/die Suizidant war Lebensgefährte/in, Elternteil, Geschwister oder Kind. Jeden Monat folgt eine Woche vorm Termin eine Einladung der zwei Gruppenleiter auf die man nach Bedarf für ein Treffen zu- oder absagt. Bei einem Treffen sind zwischen 7 bis 15 Personen anwesend. Das Treffen dauert i.d.R. knapp 2 Stunden.
In meiner Selbsthilfegruppe leiten zwei Betroffene, ohne psychologische Vorbildung, aber mit Gruppenleiterschulung, Gleichgesinnte auf Augenhöhe durch diese Treffen.
Die zwei Gruppenleiter richten den Raum in einer sozialen Einrichtung ein, d.h. Stuhlkreis aufstellen, lüften, Dekor-Schale mit Sand und Kerzen in die Mitte, kostenloser Sprudel sowie Gläser bereit stellen und die Bibliothek zum Thema mit Leihbüchern und kostenlosen Broschüren zum mitnehmen aufstellen.

Am Anfang stellen sich alle mit Vornamen vor (es duzen sich hier alle), sagen um wen sie trauern und wenn man möchte wie die/derjenige starb z.B. "Ich heiße Anna. Mein Vater hat sich das Leben auf den Gleisen genommen".
Durch diesen Einstieg kehrt immer eine gewisse Ernsthaftigkeit im Raum ein. Je nach Tagesstimmung fällt mir das Aussprechen dieses Satzes noch immer schwer.

Beim ersten Treffen wollte ich mich zurückhalten mit meiner Meinung und das Geschehen auf mich wirken lassen um mir ein Bild davon zu machen wie sich andere hier austauschen. Aber von Beginn an habe ich ein tiefes Vertrauen in die Betroffenheit dieser völlig fremden Personen gespürt und mich eingebracht. Der pure vertraute Schmerz jedes Einzelnen ist zu spüren im Gespräch. Es ist als ob man hier eine Fassade ablegen darf. Hier sind Mitglieder, die ganz frisch oder seit Jahren ein Mal monatlich über ihre Trauer und ihren Umgang mit dieser völlig vorwurfsfrei und natürlich sprechen.
Denn egal wie unterstützend das eigene soziale Umfeld ist, jeder hier hat erlebt wie es ist bei jemandem an die Grenzen dessen unbetroffenen Geduld zu stoßen. Wer es nicht selbst erlebt hat, kann irgendwann das Thema Suizid nicht mehr unbefangen hören. Das ist völlig verständlich, aber auch sehr frustrierend als Betrofffene/r. Ich möchte keineswegs ständig negative Gesprächsthemen anschneiden, aber es handelt sich um ein Familienmitglied. Das Thema ist für immer mit meinem Leben verbunden. So geduldig und verständnisvoll meine Freunde mit mir sind, sie kennen den Schmerz nicht. Sie können nicht unermesslich viel Geduld für dieses Thema Suizid aufbringen. Das ist absolut in Ordnung. Ich selbst will nicht immer zu das Gefühl haben ihnen Umstände zu bereiten.
Aber irgendwo müssen diese Gedanken und Gefühle sich Gehör verschaffen und in der Gruppe habe ich stetig diesen völlig freien Raum und ein ungewöhnliches Vertrauen in die Intimität der Teilnehmer. Keiner geht raus aus der Gruppe und wird von mir mit Namen und Alter mein Schicksal ausplaudern. Es ist ein Grundvertrauen unter Betroffenen das diese Treffen unbezahlbar macht. Mensch sein in Reinkultur.

Manchmal bringt ein Mitglied ein Thema mit in die Runde, manchmal regt der Gruppenleiter zu einem Thema das Gespräch an. Das fällt sehr unterschiedlich aus, aber führt immer zu einem Dialog. Häufig fließen Tränen, weil die Gefühle so tiefgreifend sind. Jedes Mal stößt man hier auf Verständnis und Taschentücher. Die Gruppenleiter moderieren diesen Gruppendialog u.a. mit belegten Fakten und Statistiken zu Betroffenenzahlen, studierten Verhaltensmustern oder geschichtlichen Hintergründen oder sprachlichen Entwicklungen. Diese Fakten geben einem oft eine gewisse Bodenhaftung zu den teils unlogischen Gefühlswelten des Themas. Oft traut man sich selbst kaum bis man die Zahlen und Fakten das erste Mal hört.
Zum Beispiel habe ich hier erfahren, dass Suizid keine gesellschaftlich beschränkte Todesart ist. Es gibt reiche wie arme Suizidanten, junge wie alte Suizidanten, männlich wie weibliche Suizidanten, durch alle Kulturen und alle Epochen hindurch Suizidanten.

Und in dieser Runde gibt es das Angebot nach dem Treffen im Anschluss etwas trinken bzw. essen zu gehen in einem beliebigem Lokal in der Nähe um den geführten Dialog mit dem freiwilligen Teil der Gruppe ausklingen zu lassen. Bei diesem "Abschlussgetränk" reduziert sich das Gesprächsthema nicht mehr nur auf "Suizid". Es wird über alles Mögliche darüber hinaus gesprochen: vom Betroffenem, zum Leben des/der Verstorbenen, zum Alltag, Tagesgeschehen, Gesundheit und und und.

Diese Art von Problembewältigung ist nicht jedermanns Sache, aber mir hilft die Gruppe sehr und ich kann Programme wie diese nur weiterempfehlen.

27./29.1.20

siehe auch: Anlaufstellen

Bild: Zach Vessels | unsplash.com
https://unsplash.com/photos/Kzmd7HSelJw

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Dienstag, 29. Oktober 2019
Familien-Mobile
"Eine Familie kann man sich wie ein Mobile vorstellen. Die einzelnen Elemente sind auf die Positionen der anderen abgestimmt, Schwankungen und Erschütterungen werden durch Pendelbewegungen ausgeglichen. Jedes Familienmitglied hat eine andere Rolle und Funktion. Durch den Tod einer Person gerät das ganze Mobile ins Schwanken, es verliert seine Stabilität und alle in der Familie sind betroffen. Ein Platz am Tisch ist leer, der Tagesablauf ändert sich, die Aufgaben müssen neu verteilt werden. Das Mobile „Familie“ ist unruhig und schwankt. Es dauert seine Zeit, bis wieder jeder seinen Platz nach der Veränderung findet."

aus: Flyer Herausgeber: Bundesgeschäftsstelle AGUS e. V., "Du hast Dir das Leben genommen – und was soll ich jetzt machen? Trauer nach Suizid – Hinweise für junge Menschen"

Bild: LauraTara / pixabay.com
https://pixabay.com/photos/crib-mobile-flowers-baby-crib-2654734/

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