Dienstag, 12. November 2019
Papa hat sich erschossen...
"Er hat sich von mir verabschiedet. Es ist schaurig, dass er wusste, dass wir uns nie wieder sehen, ich aber nicht. [...]
Wir sprechen viel miteinander, trotzdem ist jeder allein. Ich versuche mich mit praktischen Dingen abzulenken, ich kündige Abos und bestelle seine Kreditkarten ab, gehe zur Bank und löse seine Konten auf. All das zu erledigen hilft mir, damit ich nicht den Boden unter den Füßen verliere. [...]
Das eine ist die Trauer, damit kann ich umgehen. Das andere ist eine höllische Angst. Ich glaube nicht, dass ich je wieder in mein Leben zurückkehren kann ohne diese Angst. [...]
Wieso ist er tot? Er war nicht körperlich krank, aber er hatte Angst davor, im Alter zu verfallen. Er hatte keine Schulden, aber Sorge, dass ihm eines Tages das Geld ausgeht. Er war einsam, aber er hat Gesellschaft abgelehnt. [...]
Till stirbt 2004 nach einem epileptischen Anfall an einem geplatzten Blutgerinnsel.
In der Nacht vom 6. auf den 7. Juli 2008 wäre mein Bruder dreißig Jahre alt geworden. Mein Vater stirbt in dieser Nacht. Er ist 67. [...]
Er hat mein Leben geprägt wie kein anderer, und er wird nicht erfahren, was aus mir wird, er wird meine Kinder nicht sehen oder bei meiner Hochzeit sein.[…]
Wenn sich alles andere ändert, ändert sich auch die eigene Rolle. Ich verliere durch seinen Tod an Selbstbewusstsein und Sicherheit. […]
Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO begeht eine Million Menschen jährlich Selbstmord.[...]
Er hat dafür gesorgt, dass ich eine beschützte, fröhliche Kindheit habe; eine glückliche Familie – mit den besten Eltern und tollen Brüdern. Vielleicht hat mir das glückliche Vorher über das schreckliche Nachher geholfen. [...]
Dennoch werde ich manchmal furchtbar wütend. Dann kann ich nicht akzeptieren, dass er mich, meine Mutter, meine Geschwister alleingelassen und sich davongestohlen hat. So ist das. Der Freitod macht den Unterschied. Es bleibt eine Schuldfrage, auch wenn niemand Schuld hat. Mein Vater hatte das Recht, zu entscheiden, wann er stirbt. Dass er am Ende seines Lebens so verzweifelt und traurig gewesen sein muss, wird immer wehtun."

aus: Papa hat sich erschossen, Saskia Jungnikl, Album, DER STANDARD, 23./24.3.2013

gefunden am 31.10.19

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