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Dienstag, 19. Mai 2020
Über Trauer
anna mestisa, 20:47h
Trauer hat viele Gesichter und schleicht sich auf die unterschiedlichsten Arten an. Sie ist nicht immer nur gewaltsam und schmerzhaft. Sie kann auch bittersüß und zart sein. Trauer ist so bunt wie ein Chamäleon. Nur zeigt sie eben nicht all ihre Facetten und Farben auf einmal.
Ich habe früh gesehen wie mir nahe stehende Personen trauern (meine Mutter um ihren Vater, mein Bruder um seinen Lebensgefährten) und ich habe erlebt wie sie sich mit der Trauer verändert haben.
Von Berufswegen habe ich einiges über Bücher in dem Segment "Tod & Trauer" aus sachlicher Sicht gelernt u. a. die neutrale wertfreie Sprache; wie Stimmungsbilder Worte fixieren und materialisieren helfen; das Trauer jeden treffen kann völlig gleich welchen Geschlechts, Alters, Ethnie oder Wohlstands. Trauer ist höchstpersönlich und daher in jedem Fall individuell anzuerkennen. All diese Faktoren sind rein sachlich also nichts Neues für mich.
Aber von Innen sieht Trauer grundsätzlich anders aus als von Außen. Selbst einen schweren Verlust zu verkraften verändert Menschen. Zusehen wie jemandem so etwas geschieht ist schlichtweg passiv. Trauer ist zwar eine universelle Erfahrung, die jeden Menschen irgendwann einholt, aber sie ist ohne persönliche Erfahrung nur ein Begriff. Und dann auch noch ein Begriff der ungern im Alltag oder in der allgegenwärtigen Medienwelt aufgegriffen wird. Unsere Gesellschaft hat neben den Religionen in Form von Gemeinden und deren Friedhöfen keinen greifbaren Raum für Trauer.
Dann kommt noch der persönliche Entwicklungsprozess hinzu. In den ersten Tagen, den ersten Wochen, den ersten Jahren zeigt sich Trauer anders als nach diesen ersten Zeitspannen. Es heißt nicht umsonst: Schmerz vergeht nicht, man lernt nur mit ihm zu leben.
Ich halte einen Vergleich mit dem Verlust eines Organs hier für sehr treffend. Man kann z. B. mit einer statt zwei Nieren Leben, aber man ist schlichtweg angreifbarer. Man verliert einen Teil seiner Sicherheit und seiner Unbeschwertheit mit diesem Organ. Genauso ist es mit dem Verlust einer nahestehenden Person. Die Psyche verliert an Halt ohne diese vertraute Person. Man muss also lernen ohne diese Person klar zu kommen. Je weiter man in diesem Prozess ist, je besser lassen sich die Trauer und der zugehörige Schmerz aushalten. Dennoch wird es immer Aktivitäten geben, die man nun nicht mehr wahrnimmt. Diese sind zu gefährlich, zu schmerzhaft oder lösen unwohl sein aus. Bei einer fehlenden Niere genauso wie bei einer fehlenden Person können z.B. übermäßiger Alkoholkonsum unschöne Ereignisse, Gefühle oder Schmerzen provozieren, die schwer auszuhalten sind.
Daher spreche ich häufig von einem "Vorher" und einem "Nachher". Es gibt ein Leben vor dem Einschlag und ein Leben danach. Es handelt sich um die emotionale Äquivalenz zu gesellschaftlichen Ereignissen in Größenordnungen wie z. B. die Erkenntnis des Klimawandels 2019, dem Anschlag auf das World Trade Center 2011, dem Zweiten Weltkrieg 1939. Für mich persönlich war der Tod des Vaters meines erwachsenen Patenkindes 2017 so schlimm wie die Erkenntnis des Klimawandels, der Tod meiner Großmutter 2016 war für mich schwer wiegend wie der Anschlag auf das World Trade Center und der Tod meines Vaters 2019 hat alles für mich verändert wie es der Zweite Weltkrieg für unsere Gesellschaft hat.
Vor dem Tod meines Vaters hatte ich ein starkes Sicherheitsgefühl; musste weniger Verantwortung schultern; war deutlich Risikofreudiger. Nach dem Tod meines Vaters bin ich verängstigter durch mein Leben gegangen; ich musste Verantwortungen tragen lernen, die mir zu schwer waren; ich hatte die Zuversicht für meine Zukunft eingebüßt und begriffen wie kurz das Leben ist.
Vor allem musste ich unglaublich viele meiner Reserven für etwas aufopfern das unausweichlich und wie durch höhere Gewalt verursacht war. Alle Ziele in meinem Leben wurden einfach so auf Null gesetzt oder in eine Kiste tief im Schrank vergraben und auf unbekannte Zeit aufgeschoben. Ich fühlte mich meines Lebens enteignet. Als müsste ich mir jeden Zentimeter in meinem Leben zurück erobern.
Jemanden verlieren, der einem so viel bedeutet, bedeutet Evolution im Zeitraffer durchleben sowie zugleich unerträglichen Stillstand aushalten. Manchmal wechseln sich diese völlig gegensätzlichen Zustände tageweise ab. Und irgendwann setzt beides vorübergehend aus. Irgendwann setzt beides mehr und mehr aus. Irgendwann setzt beides völlig aus und setzt aus dem Nichts wieder ein, weshalb ich den Begriff Trauerwelle so passend finde. Wellen kommen mal stärker, mal schwächer, meist im Doppeltakt. Und sie folgen der Ebbe und der Flut. Zwar kann Trauer in Zyklen erscheinen, so wie ich in Zyklen Kontakt mit meinem Vater hatte, aber sie kann auch aus dem nichts erscheinen und mir eine schöne Sache versauen. Erst mit der Erfahrung und mit der Akzeptanz des nicht-kontrollieren-Könnens, erreichte ich einen erträglichen Zustand, auch mit schweren oder leichten Trauerwellen. Mein emotionaler Reifegrad hat sich mit dem Verlust meiner Großmutter und einem schwierigen ersten Trauerjahr merklich verändert. Aber einen immens großen Sprung hat dieser Reifegrad vor allem mit dem Verlust meines Vaters gemacht.
Je mehr ich erfahre und erlebe, je mehr begreife ich loszulassen und in mir zu ruhen. Ich bin kein Mönch, natürlich habe ich Reaktionen und Ausraster, aber ich bin seither jemand anderes oder sagen wir ich bin noch mehr ich geworden: Ich verzeihe noch schneller. Ich graule weniger. Ich vertraue mehr in meine Instinkte und mein Bauchgefühl.
Trauer ist weder gut noch schlecht. Sie ist Teil der Natur, Teil des Lebens und nun auch ein wichtiger Teil meines Lebens.
13.05.20
Bild: The Mind Unleashed · 14. Oktober 2019
mehr unter: Celeste Roberge Homepage
„Das Gewicht von Trauer. Dieses außergewöhnliche Künstlerin (Celeste Roberge) hat einen Weg gefunden das körperliche Gefühl von Trauer zu vermitteln.“
Ich habe früh gesehen wie mir nahe stehende Personen trauern (meine Mutter um ihren Vater, mein Bruder um seinen Lebensgefährten) und ich habe erlebt wie sie sich mit der Trauer verändert haben.
Von Berufswegen habe ich einiges über Bücher in dem Segment "Tod & Trauer" aus sachlicher Sicht gelernt u. a. die neutrale wertfreie Sprache; wie Stimmungsbilder Worte fixieren und materialisieren helfen; das Trauer jeden treffen kann völlig gleich welchen Geschlechts, Alters, Ethnie oder Wohlstands. Trauer ist höchstpersönlich und daher in jedem Fall individuell anzuerkennen. All diese Faktoren sind rein sachlich also nichts Neues für mich.
Aber von Innen sieht Trauer grundsätzlich anders aus als von Außen. Selbst einen schweren Verlust zu verkraften verändert Menschen. Zusehen wie jemandem so etwas geschieht ist schlichtweg passiv. Trauer ist zwar eine universelle Erfahrung, die jeden Menschen irgendwann einholt, aber sie ist ohne persönliche Erfahrung nur ein Begriff. Und dann auch noch ein Begriff der ungern im Alltag oder in der allgegenwärtigen Medienwelt aufgegriffen wird. Unsere Gesellschaft hat neben den Religionen in Form von Gemeinden und deren Friedhöfen keinen greifbaren Raum für Trauer.
Dann kommt noch der persönliche Entwicklungsprozess hinzu. In den ersten Tagen, den ersten Wochen, den ersten Jahren zeigt sich Trauer anders als nach diesen ersten Zeitspannen. Es heißt nicht umsonst: Schmerz vergeht nicht, man lernt nur mit ihm zu leben.
Ich halte einen Vergleich mit dem Verlust eines Organs hier für sehr treffend. Man kann z. B. mit einer statt zwei Nieren Leben, aber man ist schlichtweg angreifbarer. Man verliert einen Teil seiner Sicherheit und seiner Unbeschwertheit mit diesem Organ. Genauso ist es mit dem Verlust einer nahestehenden Person. Die Psyche verliert an Halt ohne diese vertraute Person. Man muss also lernen ohne diese Person klar zu kommen. Je weiter man in diesem Prozess ist, je besser lassen sich die Trauer und der zugehörige Schmerz aushalten. Dennoch wird es immer Aktivitäten geben, die man nun nicht mehr wahrnimmt. Diese sind zu gefährlich, zu schmerzhaft oder lösen unwohl sein aus. Bei einer fehlenden Niere genauso wie bei einer fehlenden Person können z.B. übermäßiger Alkoholkonsum unschöne Ereignisse, Gefühle oder Schmerzen provozieren, die schwer auszuhalten sind.
Daher spreche ich häufig von einem "Vorher" und einem "Nachher". Es gibt ein Leben vor dem Einschlag und ein Leben danach. Es handelt sich um die emotionale Äquivalenz zu gesellschaftlichen Ereignissen in Größenordnungen wie z. B. die Erkenntnis des Klimawandels 2019, dem Anschlag auf das World Trade Center 2011, dem Zweiten Weltkrieg 1939. Für mich persönlich war der Tod des Vaters meines erwachsenen Patenkindes 2017 so schlimm wie die Erkenntnis des Klimawandels, der Tod meiner Großmutter 2016 war für mich schwer wiegend wie der Anschlag auf das World Trade Center und der Tod meines Vaters 2019 hat alles für mich verändert wie es der Zweite Weltkrieg für unsere Gesellschaft hat.
Vor dem Tod meines Vaters hatte ich ein starkes Sicherheitsgefühl; musste weniger Verantwortung schultern; war deutlich Risikofreudiger. Nach dem Tod meines Vaters bin ich verängstigter durch mein Leben gegangen; ich musste Verantwortungen tragen lernen, die mir zu schwer waren; ich hatte die Zuversicht für meine Zukunft eingebüßt und begriffen wie kurz das Leben ist.
Vor allem musste ich unglaublich viele meiner Reserven für etwas aufopfern das unausweichlich und wie durch höhere Gewalt verursacht war. Alle Ziele in meinem Leben wurden einfach so auf Null gesetzt oder in eine Kiste tief im Schrank vergraben und auf unbekannte Zeit aufgeschoben. Ich fühlte mich meines Lebens enteignet. Als müsste ich mir jeden Zentimeter in meinem Leben zurück erobern.
Jemanden verlieren, der einem so viel bedeutet, bedeutet Evolution im Zeitraffer durchleben sowie zugleich unerträglichen Stillstand aushalten. Manchmal wechseln sich diese völlig gegensätzlichen Zustände tageweise ab. Und irgendwann setzt beides vorübergehend aus. Irgendwann setzt beides mehr und mehr aus. Irgendwann setzt beides völlig aus und setzt aus dem Nichts wieder ein, weshalb ich den Begriff Trauerwelle so passend finde. Wellen kommen mal stärker, mal schwächer, meist im Doppeltakt. Und sie folgen der Ebbe und der Flut. Zwar kann Trauer in Zyklen erscheinen, so wie ich in Zyklen Kontakt mit meinem Vater hatte, aber sie kann auch aus dem nichts erscheinen und mir eine schöne Sache versauen. Erst mit der Erfahrung und mit der Akzeptanz des nicht-kontrollieren-Könnens, erreichte ich einen erträglichen Zustand, auch mit schweren oder leichten Trauerwellen. Mein emotionaler Reifegrad hat sich mit dem Verlust meiner Großmutter und einem schwierigen ersten Trauerjahr merklich verändert. Aber einen immens großen Sprung hat dieser Reifegrad vor allem mit dem Verlust meines Vaters gemacht.
Je mehr ich erfahre und erlebe, je mehr begreife ich loszulassen und in mir zu ruhen. Ich bin kein Mönch, natürlich habe ich Reaktionen und Ausraster, aber ich bin seither jemand anderes oder sagen wir ich bin noch mehr ich geworden: Ich verzeihe noch schneller. Ich graule weniger. Ich vertraue mehr in meine Instinkte und mein Bauchgefühl.
Trauer ist weder gut noch schlecht. Sie ist Teil der Natur, Teil des Lebens und nun auch ein wichtiger Teil meines Lebens.
13.05.20
Bild: The Mind Unleashed · 14. Oktober 2019
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„Das Gewicht von Trauer. Dieses außergewöhnliche Künstlerin (Celeste Roberge) hat einen Weg gefunden das körperliche Gefühl von Trauer zu vermitteln.“
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