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Montag, 1. März 2021
4 Uhr 20 - Unsere alte deutsche Eiche
anna mestisa, 19:53h
Mein Zustand
Es ist 4:20 als ich aufwache. Das Koffein in meinem Körper zwingt meine Blase deutlich früher von der Couch. Ich spüre meine wunden Muskeln vom Vortag. Ich habe mich eindeutig übernommen. Langsam erinnere ich mich. Meine Muskeln zwingen mich, mich zu erinnern. Ich spüre meine gestauchten Bandscheiben. Sie heulen auf bei dem Gedanken aufzustehen und dennoch muss ich. Im Schneckentempo drehe und wälze ich mich herunter von der Couch. Ich trotte im fast Dunkeln auf die Toilette. Es ist das wohl erdenste Gefühl der Welt, seiner Natur auch unter Schmerzen nachzukommen in der knappen vorhanden Würde. Ich denke an meinen Großvater, der bis zum Schluss versucht hat Bettpfannen zu meiden. Ich sitze in meinem physischen Schmerz da und spüre meine Gedanken kreisen. Mein Körper gehorcht mir widerwillig, aber Krampf frei. Ich wasche mir die Hände im Halbdunklen. Ich trotte in Zeitlupe zurück zur Couch. Neben ihr liegt mein Lebensgefährte direkt auf der Matratze auf dem Boden mit seiner Bettdecke wie gewohnt platziert. Als wohne er bereits hier, als wären wir nicht erst gestern hier eingezogen unter großen Schmerzen. Wie so etwas Banales wie ein Umzug uns physisch so massiv ermüdet. Uns so massiv in meine kaputten Knie zwingt. Das ist Leben. Leben ist nichts anderes als eine Aneinanderkettung von Leiden mit lichten Momente dazwischen.
Umzug - Demut
Ich bin dankbar, so so so unendlich dankbar für die Hilfe unserer zwei Freunde und meines Neffen. Die stetigen Runden im alten und neuen Treppenhaus ermüden alle Beteiligten. Ich bin fasziniert über die scheinbar nahezu Unverwundbarkeit der Jugend meines Neffen. Er sollte ausgehen und nicht wegen Corona aufs Tanzen gehen verzichten. Er sollte etwas erleben. Stattdessen ist er an einem Sonntag, auch noch dem 2. Advent, pflichtbewusst bereits um 8 Uhr in der Bahn auf dem Weg zu uns um uns zu helfen. Außerdem ist Nikolaus. Das wird mir nochmal deutlich als im leer geräumten Treppenhaus der alten Wohnung bei den Nachbarn vor der Tür ein süßes kleines Häufchen Nüsse, Mandarine und Schokolade liegt. Ich sollte zu gestresst sein um das wahrzunehmen, aber ich nehme es dennoch wahr mit leichtem Wehmut. Die Unschuld, auf die diese Geste für gewöhnlich trifft, erfreut mich. Auch wenn in diesem Fall kein Kind involviert ist.
Ich bin diese Treppe alleine an dem Tag gefühlte hundert, vermutlich 30-50 Mal leer rauf und beladen runter gelaufen.
Ein ereignisreicher Tag näherte sich seinem letzten Drittel. Meine beiden Fahrer sahen sich noch etwas um in unserer neuen Wohnung und machten eine kleine Raucherpause, ehe sie wieder gingen. Meine Freundin nahm mein Bargeld für den Mietwagen und meinen Dank, aber verzichtete auf ein selbst gekochtes Essen von mir, aufgrund des Zeitfensters bzgl. der Automiete. Sie ist nicht grundlos meine kleine Schwester, anstelle meiner besten Freundin. Wir sind zu dem geworden was wir beide sind, aufgrund solcher gegenseitiger praktischer und mentaler Hilfestellungen in schwierigen Zeiten. Sie ist zwar erst ein Drittel meines Lebens meine kleine Schwester, aber sie hat einen Ehrenplatz in meinem Herzen.
Mein Neffe isst und plaudert mit uns, während ich noch voller Tatendrang und Adrenalin nicht anders kann als Taschen voll Kleider zusammen zu stellen, Platz zu schaffen und die ersten Möbelstücke aufzubauen. Mein Neffe hat zwar längst seine Entlohnung mitTrinkgeld bekommen, aber unterhält sich gemütlich und aufladend weiter. Er ist so voller Lebenshunger und Hunger. Ich freue mich über seine Energie und seine wachsende gedankliche Selbstständigkeit.
Ich bringe mich hier und da im Dialog ein, bin aber sichtlich auf ein Möbelstück konzentriert. Ich bin beim zweiten Möbelstück als er beschließt zu gehen.
Er lässt mich und meinen F. zurück. Ich bin erschöpft. Ich küsse F.. Noch sind wir zu geladen um wehleidig zu sein, dass sollte sich schnell ändern. Ich spürte den Schmerz in den Füßen noch nicht.
Großvaters Tod
Ich erinnerte mich auch nur vage an den Tod meines Großvater vor neun Tage vorm Nikolaustag. Dieser Advent war bereits durch den Umzug dazu verdammt ohne Dekoration und ohne meinen gewöhnlichen großen jährlichen Wochenend-Backplan auszukommen. Aber das mein Großvater im stolzen Alter von 96 Jahren an Wasser in der Lunge leidend, während Aufenthalt im Krankenhaus an Lungenentzündung erkrankt und verstirbt habe ich dennoch nicht kommen sehen oder erahnen können. Es sticht daran zu denken.
Großvaters Person
Es sticht mich an das gestrige Telefonat mit Pfarrer G. zu erinnern. Die Dinge die ich ihm erzählte um meinen Opa durch meine Augen zu beschreiben: Seine bodenständige und eiserne Arbeitskraft als Kriegsüberlebender, seine Berufsvielfalt, seine Menschenfreude, seine große Liebe (fast sechzig Jahre durch dick und dünn bis zu ihrem Ende), sein Ansehen und der ihm zuteil gewordene Respekt in seiner Straße, Wohngegend und seit Kindsbeinen Heimat. Er war im Leben bereits ein Urgestein, ein harter Knochen. Er überlebte seine zehn Jahre jüngere Ehefrau um vier Jahre und seinen einzigen Sohn knapp zwei Jahre. Ich war immer voll Demut und Respekt ihm gegenüber, noch mehr je mehr ich von ihm erfuhr. Er schmierte keinem seinen Erfolg aufs Brot, aber hörte man zu, konnte er Geschichten noch und nöcher erzählen, inklusive Hintergründen und technischer, mechanischer Sachkenntnis. Er hatte die klassische tiefe warme Opa-Stimme. Er war und bleibt unser Geschichtenerzähler. Als wir uns verabschiedeten war er kaum noch da und atmete so schwer das man ihn gar nicht zwingen wollte länger zu leiden und zu bleiben. Er war schrecklich ausgemergelt. Das Rasselgeräusch in seinen Lungen trieb meinen Bruder nach einigen Minuten aus dem Raum. Vielleicht wollte er bloß rauchen. Vielleicht war es ihm zu viel. Ich musste es nicht wissen. Ich hatte Angst Opa zu berühren, Angst seinen Sauerstoffschlauch zu Nahe zu kommen. Er atmete selbstständig. Ein Beatmungsgerät hätte er abgelehnt.
Abschied nehmen
Mir war sofort klar was der Oberarzt meinte als er am Telefon sagte, wenn sie sich verabschieden wollen, beeilen sie sich lieber. Wir sind in circa fünf stunden knapp 400 Kilometer gefahren. Es war 20 Uhr als wir ankamen. Die Corona Regulierungen galten in seinem Fall nicht mehr. Wir besuchten ihn zeitgleich zu Dritt. Wir hatten keine Formulare ausgefüllt. Wir mussten lediglich Kittel, Haube, Handschuhe und Gesichtsmaske in seinem Patientenzimmer tragen, damit wir seine stark ansteckenden Viren nicht verteilten. Es war ein Déjà-vu. Im selben Marienkrankenhaus verstarb meine Großmutter. Der Kreis schließt sich.
Das Licht im Zimmer war gedimmt und er sah so schrecklich müde aus. Unter der Decke versuchte ich seine Hand auszumachen. Wollte ihn berühren ohne ihn zu überreizen. Als ich die Seite wechselte fand ich seine Hand. Diese großen starken Arbeiterhände. Sie waren immer ein Zeugnis seiner Kraft und seines Lebenswillens. Die dicken Adern und die von der Sonne gegerbte Hautfarbe, die Behaarung wie ich sie aus unserer Familie an Männerhänden kenne, sein Finger mit fehlendem Fingernagel aufgrund einer Kriegsschusswunde.
Seine Hände sprachen Bände, ohne dass er nur einen Ton sprechen musste. Er war ausgemergelt. Die letzten Jahre in Trauer haben ihm seine letzten Reversen gekostet. Seine Familie war vor ihm verstorben. Das war nicht die natürliche Reihenfolge an die er glaubte. Wir drei Enkel waren das Letzte was er hatte an Familie. Einerseits brach mir diese Tatsache schon viel früher das Herz, andererseits ist er selbst in diesem Zustand meine alte deutsche Eiche. Er ist das Wurzelwerk auf dem wir stehen. Und so rational ich auf seinen Krankenhausaufenthalt reagiert und agierte. So sehr unterdrückte ich so viele überwältigende Gefühle. Wie sollte ich mich diesen Emotionen stellen? Ich habe den Suizid meines Vaters, seines einzigen Sohnes, gerade so angefangen zu verkraften. Und nun sind wir Enkel und mein Neffe, der Urenkel alles was diese Seite des Stammbaums noch übrig hat??! Wie sollte ich diese wuchtige emotionale Information überhaupt fühlen? Ich verstehe die Fakten und das es so kommen musste. Ich hatte sehr gehofft und gewünscht, dass mein Großvater die Hundert voll macht und uns noch ein bisschen seines Wissens abgibt, ehe er gehen würde.
Bild: Amisha Nakhwa | unsplash.com
Bezug - Sein Leben in meinem Leben
Einfach so ist in 4 Jahren und 19 Tagen mein halber Stammbaum verstorben. Mir war nie bewusst, wie unbeschwert ich war, bis ich es nicht mehr war. Ich glaube, diesmal bin ich fast emotionstaub an den nahenden Todesfall herangetreten, weil ich wusste wie kräftezehrend er werden würde. Ich konnte einfach nicht in Kurzarbeit, mitten im Umzug, mitten in meinem Chaos, in mitten meines Scherbenhaufens trauern. Ich konnte es nicht. Es ging einfach nicht. Mein Bruder hatte es letztes Jahr zu Weihnachten, das erste ohne meinen Vater, auf dem Weg zu meinem Opa prophezeit. Er sagte, es könnte sein letztes Weihnachten sein. Wir waren Jahrzehnte nicht mehr zu dritt an Weihnachten in Opas Haus gewesen. Ich frage mich, ob mein Bruder sich an seinen, an diesen Ausspruch erinnerte.
Trauer um Opa
Die Trauer kam mit voller Wucht als ich mich bedankte... Sie kam leise im Dunkeln dieses Krankenhauszimmers... Als ich seine warme aufgedunsene, aber dennoch vertraute große warme Hand berührte. Ich bin als Kind bereits seine Adern und Linien in der Hand mit den Fingern nachgefahren. Als ich seine Hand berührte wurde sein nahender Tod real. Es war unausweichlich klar. Sein Hand war gar fiebrig warm. Mein Bruder, ausgebildeter Altenpfleger, erklärte mir, dass seine erhöhte Körpertemperatur ein letztes Aufbäumen des Körpers ist zu heilen. Aber die angeschlossene Morphin-Spritze an seinem Katheter war der klare Beweis, dass er Schmerzen nicht mehr litt, aber auch sonst nicht mehr viel wahrnahm. Aber wie ich immer hoffe bei Krankenhausbesuchen und immer glauben versuche, habe ich mit ihm geredet... ohne seine Hörgeräte, ohne laute stattdessen mit wackliger Emotions ertränkter Stimme. Ich kann mich an keinen einzelnen Satz erinnern, nur daran dass ich mich bei ihm bedankte, dafür noch hier zu sein für einen Abschied, für sein beeindruckendes und nachhaltiges Leben. Er war ein einfacher Mann und doch das moralisch unverkennbare erhabene unerreichbare Vorbild. Ich ahnte warum mein Vater sich daran nie messen wollte.
Sein Alltag
Wie der große H., nach einem Kriegsherrn benannt, so komprimiert werden konnte von Alter und Zeit; Haut und Knochen und ein kleines bisschen Restmuskeln. Er hatte sich in den letzten Wochen eine Vollzeitpflegerin ins Haus geholt. Ewig hatte er autark gelebt und wollte keine Fremde im Haus, aber ab einem gewissen Punkt wurde er einsichtig. Er hatte seit Jahrzehnten eine Haushaltshilfe, aber diese schlief ja nicht in seinem Haus.
Ich hoffte die Pflegerin würde seine Lebensqualität bessern, aber da war der Abgang nicht mehr aufzuhalten. Der Johanniter-Not-Knopf am Handgelenk war nicht mehr genug. Das wusste er. Er wusste, es neigt sich dem Ende. Er war im vergangenen Jahr bereits "mit einem blauen Auge" aus dem Krankenhaus aus selbigem Grund eingeführt und kaum stabil auch wieder entlassen worden.
Todeskampf
Es hatte sich angekündigt und doch haben wir uns fast drei Stunden Zeit genommen, uns zu verabschieden und das Krankenhauspersonal ließ uns. Wir wurden nicht beäugt und nicht gehetzt. Alle kannten den Ernst der Lage. Vermutlich hatten sie nicht einmal mit Besuch gerechnet, nachdem er sich bereits einige Tagen in diesem Zustand befand, ohne uns darüber zu benachrichtigen. Er war ein Kämpfer durch und durch, aber diesen Kampf würde er verlieren. Sechs stunden später verstarb er im Morphin-Schlaf.
Irgendwie hatte ich geglaubt am nächsten Morgen vielleicht nochmal mit ihm reden bzw. ihm zuzureden zu können. Vielleicht habe ich mich selbst belogen um überhaupt aus dem Krankenhauszimmer gehen zu können um überhaupt loszulassen. Meine deutsche Eiche wie sollen wir ohne dich zurecht kommen? Die Emotionsbandbreite war schmaler als die letzten zwei Todesfälle, aber wuchtiger in ihrer Tragweite.
Bild: PIX1861 | pixabay.com
Das Erbe
Das Familienvermächtnis wiegt schwer. Die drei entwurzelten Enkel sollen über ein Erbe schalten und walten, das auf dem Rücken etlicher Familienstammbäume steht. Der Hauptgrund für unseren neu gefundenem Wohlstand sind die gefallenen männlichen Soldaten unserer Ahnen und der eisernen, Erben bewussten und stetigen Hand meines Großvaters. Wir drei sind gnadenlos überfordert mit dieser Aufgabe, die räumlich fast 400 Kilometer entfernt von unserem Lebensmittelpunkt liegt.
Vermutlich hat dieses Verantwortungsgefühl meine Trauer unter sich erschlagen. Auch das ist ein Déjà-vu.
Damals beim Tod meines Vaters wirkte die vererbte Verantwortung größer als mein ganzes Leben selbst. So, nur um ein viel viel vielfaches größer, fühlt sich das Verantwortungsgefühl heute an.
Ich kann nur sehr vage ansatzweise den Umfang des Erbes nachvollziehen. Ich weiß nur, das es genug ist um die Fassung zu verlieren, wenn man nicht vertraut damit ist. Ich bin nicht erfreut über diesen Wert, über dieses großartige Geschenk. Jetzt empfinde ich es als Last. Ich empfinde eine neue Dimension an Schmerz, physischen wie psychischem Schmerz. Ich sperre ihn aus und verdränge ihn. Ich funktioniere für meinen Umzug, konzentriere mich auf die Aufgabe vor meinen Füßen. Ich konzentriere mich auf den heutigen tragbaren Schmerz. Und kann parallel fühlen wie der Schmerzhaufen anschwillt unter der Decke, unter der Haut, auf meiner Brust, direkt auf meinem Herzen.
7.12.20
Es ist 4:20 als ich aufwache. Das Koffein in meinem Körper zwingt meine Blase deutlich früher von der Couch. Ich spüre meine wunden Muskeln vom Vortag. Ich habe mich eindeutig übernommen. Langsam erinnere ich mich. Meine Muskeln zwingen mich, mich zu erinnern. Ich spüre meine gestauchten Bandscheiben. Sie heulen auf bei dem Gedanken aufzustehen und dennoch muss ich. Im Schneckentempo drehe und wälze ich mich herunter von der Couch. Ich trotte im fast Dunkeln auf die Toilette. Es ist das wohl erdenste Gefühl der Welt, seiner Natur auch unter Schmerzen nachzukommen in der knappen vorhanden Würde. Ich denke an meinen Großvater, der bis zum Schluss versucht hat Bettpfannen zu meiden. Ich sitze in meinem physischen Schmerz da und spüre meine Gedanken kreisen. Mein Körper gehorcht mir widerwillig, aber Krampf frei. Ich wasche mir die Hände im Halbdunklen. Ich trotte in Zeitlupe zurück zur Couch. Neben ihr liegt mein Lebensgefährte direkt auf der Matratze auf dem Boden mit seiner Bettdecke wie gewohnt platziert. Als wohne er bereits hier, als wären wir nicht erst gestern hier eingezogen unter großen Schmerzen. Wie so etwas Banales wie ein Umzug uns physisch so massiv ermüdet. Uns so massiv in meine kaputten Knie zwingt. Das ist Leben. Leben ist nichts anderes als eine Aneinanderkettung von Leiden mit lichten Momente dazwischen.
Umzug - Demut
Ich bin dankbar, so so so unendlich dankbar für die Hilfe unserer zwei Freunde und meines Neffen. Die stetigen Runden im alten und neuen Treppenhaus ermüden alle Beteiligten. Ich bin fasziniert über die scheinbar nahezu Unverwundbarkeit der Jugend meines Neffen. Er sollte ausgehen und nicht wegen Corona aufs Tanzen gehen verzichten. Er sollte etwas erleben. Stattdessen ist er an einem Sonntag, auch noch dem 2. Advent, pflichtbewusst bereits um 8 Uhr in der Bahn auf dem Weg zu uns um uns zu helfen. Außerdem ist Nikolaus. Das wird mir nochmal deutlich als im leer geräumten Treppenhaus der alten Wohnung bei den Nachbarn vor der Tür ein süßes kleines Häufchen Nüsse, Mandarine und Schokolade liegt. Ich sollte zu gestresst sein um das wahrzunehmen, aber ich nehme es dennoch wahr mit leichtem Wehmut. Die Unschuld, auf die diese Geste für gewöhnlich trifft, erfreut mich. Auch wenn in diesem Fall kein Kind involviert ist.
Ich bin diese Treppe alleine an dem Tag gefühlte hundert, vermutlich 30-50 Mal leer rauf und beladen runter gelaufen.
Ein ereignisreicher Tag näherte sich seinem letzten Drittel. Meine beiden Fahrer sahen sich noch etwas um in unserer neuen Wohnung und machten eine kleine Raucherpause, ehe sie wieder gingen. Meine Freundin nahm mein Bargeld für den Mietwagen und meinen Dank, aber verzichtete auf ein selbst gekochtes Essen von mir, aufgrund des Zeitfensters bzgl. der Automiete. Sie ist nicht grundlos meine kleine Schwester, anstelle meiner besten Freundin. Wir sind zu dem geworden was wir beide sind, aufgrund solcher gegenseitiger praktischer und mentaler Hilfestellungen in schwierigen Zeiten. Sie ist zwar erst ein Drittel meines Lebens meine kleine Schwester, aber sie hat einen Ehrenplatz in meinem Herzen.
Mein Neffe isst und plaudert mit uns, während ich noch voller Tatendrang und Adrenalin nicht anders kann als Taschen voll Kleider zusammen zu stellen, Platz zu schaffen und die ersten Möbelstücke aufzubauen. Mein Neffe hat zwar längst seine Entlohnung mitTrinkgeld bekommen, aber unterhält sich gemütlich und aufladend weiter. Er ist so voller Lebenshunger und Hunger. Ich freue mich über seine Energie und seine wachsende gedankliche Selbstständigkeit.
Ich bringe mich hier und da im Dialog ein, bin aber sichtlich auf ein Möbelstück konzentriert. Ich bin beim zweiten Möbelstück als er beschließt zu gehen.
Er lässt mich und meinen F. zurück. Ich bin erschöpft. Ich küsse F.. Noch sind wir zu geladen um wehleidig zu sein, dass sollte sich schnell ändern. Ich spürte den Schmerz in den Füßen noch nicht.
Großvaters Tod
Ich erinnerte mich auch nur vage an den Tod meines Großvater vor neun Tage vorm Nikolaustag. Dieser Advent war bereits durch den Umzug dazu verdammt ohne Dekoration und ohne meinen gewöhnlichen großen jährlichen Wochenend-Backplan auszukommen. Aber das mein Großvater im stolzen Alter von 96 Jahren an Wasser in der Lunge leidend, während Aufenthalt im Krankenhaus an Lungenentzündung erkrankt und verstirbt habe ich dennoch nicht kommen sehen oder erahnen können. Es sticht daran zu denken.
Großvaters Person
Es sticht mich an das gestrige Telefonat mit Pfarrer G. zu erinnern. Die Dinge die ich ihm erzählte um meinen Opa durch meine Augen zu beschreiben: Seine bodenständige und eiserne Arbeitskraft als Kriegsüberlebender, seine Berufsvielfalt, seine Menschenfreude, seine große Liebe (fast sechzig Jahre durch dick und dünn bis zu ihrem Ende), sein Ansehen und der ihm zuteil gewordene Respekt in seiner Straße, Wohngegend und seit Kindsbeinen Heimat. Er war im Leben bereits ein Urgestein, ein harter Knochen. Er überlebte seine zehn Jahre jüngere Ehefrau um vier Jahre und seinen einzigen Sohn knapp zwei Jahre. Ich war immer voll Demut und Respekt ihm gegenüber, noch mehr je mehr ich von ihm erfuhr. Er schmierte keinem seinen Erfolg aufs Brot, aber hörte man zu, konnte er Geschichten noch und nöcher erzählen, inklusive Hintergründen und technischer, mechanischer Sachkenntnis. Er hatte die klassische tiefe warme Opa-Stimme. Er war und bleibt unser Geschichtenerzähler. Als wir uns verabschiedeten war er kaum noch da und atmete so schwer das man ihn gar nicht zwingen wollte länger zu leiden und zu bleiben. Er war schrecklich ausgemergelt. Das Rasselgeräusch in seinen Lungen trieb meinen Bruder nach einigen Minuten aus dem Raum. Vielleicht wollte er bloß rauchen. Vielleicht war es ihm zu viel. Ich musste es nicht wissen. Ich hatte Angst Opa zu berühren, Angst seinen Sauerstoffschlauch zu Nahe zu kommen. Er atmete selbstständig. Ein Beatmungsgerät hätte er abgelehnt.
Abschied nehmen
Mir war sofort klar was der Oberarzt meinte als er am Telefon sagte, wenn sie sich verabschieden wollen, beeilen sie sich lieber. Wir sind in circa fünf stunden knapp 400 Kilometer gefahren. Es war 20 Uhr als wir ankamen. Die Corona Regulierungen galten in seinem Fall nicht mehr. Wir besuchten ihn zeitgleich zu Dritt. Wir hatten keine Formulare ausgefüllt. Wir mussten lediglich Kittel, Haube, Handschuhe und Gesichtsmaske in seinem Patientenzimmer tragen, damit wir seine stark ansteckenden Viren nicht verteilten. Es war ein Déjà-vu. Im selben Marienkrankenhaus verstarb meine Großmutter. Der Kreis schließt sich.
Das Licht im Zimmer war gedimmt und er sah so schrecklich müde aus. Unter der Decke versuchte ich seine Hand auszumachen. Wollte ihn berühren ohne ihn zu überreizen. Als ich die Seite wechselte fand ich seine Hand. Diese großen starken Arbeiterhände. Sie waren immer ein Zeugnis seiner Kraft und seines Lebenswillens. Die dicken Adern und die von der Sonne gegerbte Hautfarbe, die Behaarung wie ich sie aus unserer Familie an Männerhänden kenne, sein Finger mit fehlendem Fingernagel aufgrund einer Kriegsschusswunde.
Seine Hände sprachen Bände, ohne dass er nur einen Ton sprechen musste. Er war ausgemergelt. Die letzten Jahre in Trauer haben ihm seine letzten Reversen gekostet. Seine Familie war vor ihm verstorben. Das war nicht die natürliche Reihenfolge an die er glaubte. Wir drei Enkel waren das Letzte was er hatte an Familie. Einerseits brach mir diese Tatsache schon viel früher das Herz, andererseits ist er selbst in diesem Zustand meine alte deutsche Eiche. Er ist das Wurzelwerk auf dem wir stehen. Und so rational ich auf seinen Krankenhausaufenthalt reagiert und agierte. So sehr unterdrückte ich so viele überwältigende Gefühle. Wie sollte ich mich diesen Emotionen stellen? Ich habe den Suizid meines Vaters, seines einzigen Sohnes, gerade so angefangen zu verkraften. Und nun sind wir Enkel und mein Neffe, der Urenkel alles was diese Seite des Stammbaums noch übrig hat??! Wie sollte ich diese wuchtige emotionale Information überhaupt fühlen? Ich verstehe die Fakten und das es so kommen musste. Ich hatte sehr gehofft und gewünscht, dass mein Großvater die Hundert voll macht und uns noch ein bisschen seines Wissens abgibt, ehe er gehen würde.
Bild: Amisha Nakhwa | unsplash.com
Bezug - Sein Leben in meinem Leben
Einfach so ist in 4 Jahren und 19 Tagen mein halber Stammbaum verstorben. Mir war nie bewusst, wie unbeschwert ich war, bis ich es nicht mehr war. Ich glaube, diesmal bin ich fast emotionstaub an den nahenden Todesfall herangetreten, weil ich wusste wie kräftezehrend er werden würde. Ich konnte einfach nicht in Kurzarbeit, mitten im Umzug, mitten in meinem Chaos, in mitten meines Scherbenhaufens trauern. Ich konnte es nicht. Es ging einfach nicht. Mein Bruder hatte es letztes Jahr zu Weihnachten, das erste ohne meinen Vater, auf dem Weg zu meinem Opa prophezeit. Er sagte, es könnte sein letztes Weihnachten sein. Wir waren Jahrzehnte nicht mehr zu dritt an Weihnachten in Opas Haus gewesen. Ich frage mich, ob mein Bruder sich an seinen, an diesen Ausspruch erinnerte.
Trauer um Opa
Die Trauer kam mit voller Wucht als ich mich bedankte... Sie kam leise im Dunkeln dieses Krankenhauszimmers... Als ich seine warme aufgedunsene, aber dennoch vertraute große warme Hand berührte. Ich bin als Kind bereits seine Adern und Linien in der Hand mit den Fingern nachgefahren. Als ich seine Hand berührte wurde sein nahender Tod real. Es war unausweichlich klar. Sein Hand war gar fiebrig warm. Mein Bruder, ausgebildeter Altenpfleger, erklärte mir, dass seine erhöhte Körpertemperatur ein letztes Aufbäumen des Körpers ist zu heilen. Aber die angeschlossene Morphin-Spritze an seinem Katheter war der klare Beweis, dass er Schmerzen nicht mehr litt, aber auch sonst nicht mehr viel wahrnahm. Aber wie ich immer hoffe bei Krankenhausbesuchen und immer glauben versuche, habe ich mit ihm geredet... ohne seine Hörgeräte, ohne laute stattdessen mit wackliger Emotions ertränkter Stimme. Ich kann mich an keinen einzelnen Satz erinnern, nur daran dass ich mich bei ihm bedankte, dafür noch hier zu sein für einen Abschied, für sein beeindruckendes und nachhaltiges Leben. Er war ein einfacher Mann und doch das moralisch unverkennbare erhabene unerreichbare Vorbild. Ich ahnte warum mein Vater sich daran nie messen wollte.
Sein Alltag
Wie der große H., nach einem Kriegsherrn benannt, so komprimiert werden konnte von Alter und Zeit; Haut und Knochen und ein kleines bisschen Restmuskeln. Er hatte sich in den letzten Wochen eine Vollzeitpflegerin ins Haus geholt. Ewig hatte er autark gelebt und wollte keine Fremde im Haus, aber ab einem gewissen Punkt wurde er einsichtig. Er hatte seit Jahrzehnten eine Haushaltshilfe, aber diese schlief ja nicht in seinem Haus.
Ich hoffte die Pflegerin würde seine Lebensqualität bessern, aber da war der Abgang nicht mehr aufzuhalten. Der Johanniter-Not-Knopf am Handgelenk war nicht mehr genug. Das wusste er. Er wusste, es neigt sich dem Ende. Er war im vergangenen Jahr bereits "mit einem blauen Auge" aus dem Krankenhaus aus selbigem Grund eingeführt und kaum stabil auch wieder entlassen worden.
Todeskampf
Es hatte sich angekündigt und doch haben wir uns fast drei Stunden Zeit genommen, uns zu verabschieden und das Krankenhauspersonal ließ uns. Wir wurden nicht beäugt und nicht gehetzt. Alle kannten den Ernst der Lage. Vermutlich hatten sie nicht einmal mit Besuch gerechnet, nachdem er sich bereits einige Tagen in diesem Zustand befand, ohne uns darüber zu benachrichtigen. Er war ein Kämpfer durch und durch, aber diesen Kampf würde er verlieren. Sechs stunden später verstarb er im Morphin-Schlaf.
Irgendwie hatte ich geglaubt am nächsten Morgen vielleicht nochmal mit ihm reden bzw. ihm zuzureden zu können. Vielleicht habe ich mich selbst belogen um überhaupt aus dem Krankenhauszimmer gehen zu können um überhaupt loszulassen. Meine deutsche Eiche wie sollen wir ohne dich zurecht kommen? Die Emotionsbandbreite war schmaler als die letzten zwei Todesfälle, aber wuchtiger in ihrer Tragweite.
Bild: PIX1861 | pixabay.com
Das Erbe
Das Familienvermächtnis wiegt schwer. Die drei entwurzelten Enkel sollen über ein Erbe schalten und walten, das auf dem Rücken etlicher Familienstammbäume steht. Der Hauptgrund für unseren neu gefundenem Wohlstand sind die gefallenen männlichen Soldaten unserer Ahnen und der eisernen, Erben bewussten und stetigen Hand meines Großvaters. Wir drei sind gnadenlos überfordert mit dieser Aufgabe, die räumlich fast 400 Kilometer entfernt von unserem Lebensmittelpunkt liegt.
Vermutlich hat dieses Verantwortungsgefühl meine Trauer unter sich erschlagen. Auch das ist ein Déjà-vu.
Damals beim Tod meines Vaters wirkte die vererbte Verantwortung größer als mein ganzes Leben selbst. So, nur um ein viel viel vielfaches größer, fühlt sich das Verantwortungsgefühl heute an.
Ich kann nur sehr vage ansatzweise den Umfang des Erbes nachvollziehen. Ich weiß nur, das es genug ist um die Fassung zu verlieren, wenn man nicht vertraut damit ist. Ich bin nicht erfreut über diesen Wert, über dieses großartige Geschenk. Jetzt empfinde ich es als Last. Ich empfinde eine neue Dimension an Schmerz, physischen wie psychischem Schmerz. Ich sperre ihn aus und verdränge ihn. Ich funktioniere für meinen Umzug, konzentriere mich auf die Aufgabe vor meinen Füßen. Ich konzentriere mich auf den heutigen tragbaren Schmerz. Und kann parallel fühlen wie der Schmerzhaufen anschwillt unter der Decke, unter der Haut, auf meiner Brust, direkt auf meinem Herzen.
7.12.20
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