Donnerstag, 25. März 2021
2. Todestag - Flashbacks / Rückblenden
Es ist sein zweiter Todestag, aber eigentlich bin ich erst 1 Jahr und 363 Tage in Trauer. 2 Tage wussten wir nicht was geschehen war. 2 Tage wegschieben, wegdrücken, hoffen, bangen, ignorieren.
Und irgendwann dann der Anruf. Der Schock.
Rausgehen. Der Sprint.
Erst auf dem Feld allein die erste Reaktion. Zusammenkrampfen. Versteifen. Hypeventilation. Weinkrämpfe. Zittern. Erstickte Schreie. Völlige Hilflosigkeit. Panik. Adrenalinausstoß.
Anrufe.

Bild: (C) Privat
(C) privat

Erster Anruf. Meinen Bruder sprechen. Ich konnte nicht zu lassen, dass er es auch von meinem Stiefvater erfährt. Ich stehe meinem Bruder so viel näher als mein Stiefvater meinem Bruder. Seine Ungläubigkeit spiegelt meine wieder. Wir beide suchen nach Argumenten diese Aussage meines Stiefvaters zu wiederlegen. Suchen nach Missverständnissen. Wir verabreden einen Treffpunkt.

Zweiter Anruf. Dieser Anruf ist deutlich aufgewühlter und verzweifelter und freier in meiner Reaktion. Ich spreche mit meinem Lebensgefährten. Es fließen nicht mehr nur Fakten aus meinem Mund sondern Fluten von Emotionen. Er versucht mich zu beruhigen. Er hört meine hektische, verängstigte, aufgeregte Atmung. Er sagt, ich solle auf mich aufpassen, in einem Moment in dem ich mein selbst gar nicht spüren kann. Diese Mahnung von ihm hilft mir sehr. Ein weiteren Notfall braucht heute wirklich keiner.

Mein Mutter ist bereits der weitere Notfall. Zumindest glaube ich das in diesem Moment aufrichtig. Sie ist panisch und bricht beim Anblick jedes neuen Gesichts im Raum in lautes Schluchzen aus. Die Traumatologin beobachtet mein Zögern meine Mutter zu beruhigen und spricht mich an. Sie rät mir meine Mutter mit nach Hause zu nehmen, da hier im Krankenhaus nichts für sie getan werden könne. Sie sei gesundheitlich stabil. Ich nicke ungläubig, da diese Information zu Nichts in diesem Raum zu passen scheint. Die ganze Familie ist hier. Alle sind besorgt um meine Mutter, ich auch. War das nur ihre erste Reaktion im Schock?! War dieser bereits vorbei?? Ich hatte noch nie jemanden in einem Schockraum besucht, daher fand ich mich mit allem ab, auch dieser Anweisung. Es war mir im Prinzip auch egal. Zu wissen, das meine Mutter lebt, reichte mir zu diesem Zeitpunkt völlig.

Ich hatte meinen Vater verloren und konnte gar nichts greifen. Keiner von uns wusste von einer Vorerkrankung, auch keiner psychischen Vorerkrankung. Es ergab einfach keinen Sinn.

Erst die Polizisten geben mir einen Sinn hinter den Sprachfetzten, Aussagen Dritter und Emotionsfluten. Sie haben sein Auto gefunden. Seinen Leichnahm hat die Stadt B. vor zwei Tagen eingesammelt. Vor zwei Tagen hat die Lebensgefährtin meines Bruders an der Haltestelle gestanden und wegen eines Personenschadens auf ihre verspätete S-Bahn nach Hause warten müssen. Die Puzzelteile lagen da, es brauchte Wochen bis ich sie zusammensetzen, geschweige denn fassen konnte. Die Polizei hat die ersten Puzzelteile bereits zusammengesetzt und ahnt ein Bild, um es zu bestätigen bitten sie mich jetzt um Haare und Speichelproben in Form meines Vaters Bademantels und seiner Zahnbürste. Sie erklären uns wo sein Auto steht und das sie es sehen müssen um ggf. Beweise zu sichern. Um eine Fremdeinwirkung auszuschließen, haben die Polizisten das Auto im Beisein meines Bruders und mir aufgeschlossen und Spuren gesucht. Sein Handy und sein Geldbeutel waren im Auto. Er trug wohl nur seinen Schlüssel bei sich, daher die Verzögerung der Identifizierung der Leiche.

Dein Todestag war zwei Tage vergangen und wir alle haben uns die verrücktesten Szenarien ausgemalt. Hat er sich abgesetzt? Hat er meinen Großvater spontan drei Bundesländer also 443 Km entfernt besucht? Hatte er einen Unfall auf dem Weg dahin? Gab es in der neu gefundenen WG Streit? Wollte er nur abtauchen bis sich die Lage entspannte? Keines unserer ausgedachten Szenarien hatte darin geendet, dass er verstorben sein könnte. Geschweige denn, dass er sich selbst das Leben genommen hat.

Es ist seltsam in dieser Situation zu sein. Wenn dein Leben sich Stunden lang nicht wie dein Leben, sondern ein verkappter Spielfilm anfühlt. Als wäre ich gar nicht wirklich hier und hoffe aufzuwachen. Die Polizisten geben uns einen Termin zur Befragung des näheren Umfelds, also den Kindern und seinen Mitbewohnern (seine Ex-Frau und ihrem Ehemann).


Wenn ich also den 29.1.2019, deinen Todestag, Tribut zolle, fühlt es sich irgendwie falsch und veschoben an. Für mich warst du erst am 31.1.2019 tot. Und allein dieser Umstand beschämt mich in meiner Familienehre. Zwei Tage zwischen deinem Todestag und unserer Trauer um dich. Gibt es etwas das sich falscher anfühlt neben diesem Fakt? Und deinem Suizid?

Du bist zwei Jahre Tod und ich verkrampfe sowohl an jedem 29.1. als auch jedem 31.1. Das wiederkehrende schlechte Gewissen deiner Todesursache wird durch solche Umstände nur weiter befeuert.

Ich könnte eine neue Tradition einführen. Am 29.1. das Waldstück an den Gleisen entlang spazieren. Und am 31.1. zu deinem Grab gehen, ein Gebet sprechen, dir Blumen bringen.

Ich hatte mich heute völlig verausgabt bei meinem Waldspaziergang. Ich will heute und morgen einfach niemanden sehen. Vielleicht bringe ich dir nächste Woche Blumen, wenn die Blumen der Verwandschaft das welken beginnen und meine Erkältung völlig abgeklungen ist.

Du spukst mir doch sowieso im Spiegelbild zu. Wenn ich mich auf einzelne meiner Gesichtzüge (z.B. die dicken Augenbrauen oder die dunklen Haare) konzentriere, sehe ich Teile von dir in mir weiterleben.

31.1.2021 | 1

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