Donnerstag, 11. März 2021
Scham: Vergleich Suizid versus Natürlicher Tod
Mir war nicht klar wie schwer es mir fallen würde Antworten auf überschaubare 13 Trauerkarten zu schreiben. Ganze zwei Tage meines Weihnachtsurlaubs habe ich hierfür benötigt. Manche Beileidskarten wirken nüchtern, klingen wie Anstandsgesten, manche Karten hingegen sind extrem persönlich und schmerzhaft zu lesen. Auf letztere angemessen zu antworten fühlt sich an wie ein Drahtseilakt. Aber ich habe schon immer mein Herz auf der Zunge getragen. Daher sind die Antworten hierauf auch persönlicher ausgefallen. Mit einer handvoll Eckdaten zum Todesfall selbst und einem Hauch meiner persönlichen Gefühle gespickt. Auch wenn ich alle Schreiben in Sie Form verfasst habe, spüre ich die Nähe der Absender zu meinem Großvater. So sehr ich mich davor gesträubt habe die Briefe überhaupt zu öffnen, so erleichtert war ich nach dem ersten Lesen.

Dieser Trauerfall schmerzt anders. Nach meines Vaters Suizid fühlt sich der Trauerfall meines 96 jährigen Großvaters nur noch wie ein Spaziergang durch unwegsames Waldgelände, wohingegen sich der Weg bei meinem Vater anfühlte wie Märsche an Märsche gereiht durch den Dschungel, die Savane, die Arktis und die Tundra. Das eine ist anstrengend, aber erträglich, das andere treibt einen ans Limit seiner Kräfte und darüber hinaus und lässt nicht viel von einem selbst übrig.

Vielleicht stumpft man auch ab mit jedem Todesfall. Vielleicht baut man schneller Schutzmauern und lässt es nicht so leicht an sich ran. Vielleicht liegt es an der eher dünn gesähten Präsenz meines Großvaters in meinem Alltag der letzten Jahre. Vielleicht bin ich einfach nur stärker oder gefestigter in meinem Charakter als früher. Ich weiß es nicht.

Ich weiß nur, dass es mir diesmal leichter fällt damit umzugehen und darüber zu reden. Ausgerechnet deswegen schäme ich mich ein wenig. Ich habe meinen Großvater geliebt und er war wichtig für mein Verständnis meiner Herkunft, meiner Familiengeschichte und auch sehr sehr wichtig für viele meiner Grundwerte, ja selbst meine Verbundenheit und Freude am Backen, an Literatur, an der Natur und mein stark ausgeprägter Hang zur Gewissenhaftigkeit. Sehr vieles in mir ergab erst richtig Sinn, nachdem ich meinen Großvater als Menschen kennenlernte und nicht bloß als meine liebste Vorlesestimme von Märchenbüchern. Seine baßlastige Stimme, sein Talent stimmen nachzuahmen und sein Gefühl für Pointen hoben ihn einfach über alle anderen Vorleser ab, die ich je kannte als Kind.

Ich verzeihe mir diese Scham zu meine Trauer.
Es ist einfach wahr. Ein natürlicher Tod schmerzt mich weniger als ein unnatürlicher und gewaltsamer Tod. Wertungsverbote hin oder her.

5.1.21

Foto: Simon Berger | unsplash.com
https://unsplash.com/photos/DZi0rnYrpWc

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