Donnerstag, 9. April 2020
Meinen Vater kennen lernen - Angst vorm Vergessen
Mein Vater konnte egal aus welchen Resten eine Tortellini Soße zusammen rühren. Diese war nie kulinarisch herausragend, aber jedes Mal schmeckte sie mir und sie schmeckte immer auch nach Vaters Note, wie aus seiner Hand.

Er ließ sich erst vom Profi Handwerker helfen, wenn er gar nicht mehr weiter wusste. Ob Lampen, Ofen, Waschmaschine, Möbelstück, Fenster, Auto usw. usw. usw. mein Vater versuchte immer erst alles selbst zu reparieren, ehe er im äußersten Fall einen Handwerker bestellte und das in Zeiten lange vor YouTube. Mein Vater hatte sehr viel praktisches Wissens durch den Hausbau seiner Eltern in seiner Kindheit und Jugend gelernt und angewendet. Daher war es nur logisch, dass wir Kinder von klein auf unserem Vater bei Reparaturen oft helfend zur Hand gehen mussten.


Vater verfolgte im Stillen jeden meiner Social Media Posts, jeden meiner kläglichen Schritte auf Slam-Bühnen oder in Keller-Studios und er sammelte alle Aufnahmen und Fotos von mir, die er fand. Er war einfach immer da, wenn ich ihn brauchte. Feierte mit wenn ich die Familie einbezog. Er war so nah dran an mir und mir war das nie so richtig bewusst.

Umgekehrt war es schier unmöglich für mich meinen Vater zu animieren über seine Kindheit oder Jugend zu erzählen. Aber er konnte immer stundenlang über Technisches, über aktuelles Politikgeschehen, über Kulturen oder Geschichte erzählen und mit jedem diskutieren.
Er war in der Lage sich begeistern und beeindrucken zu lassen von Erfindungen, Lebenskünstlern, die wahrlich seinen Respekt verdienten aufgrund ihres Könnens. Aber er feierte auch die kleinen Errungenschaften des Lebens wie Gadgets wie Pocket Scanner oder Streichkissen für Wandfarbe oder wie besondere Jogurt Geschmackrichtungen oder neue Milch- und Molke Drinks.

Mein Vater war eigentlich nie ein Geheimniskrämer. Er nahm sich nur selbst nicht so wichtig. Ihm war Mode egal, obwohl er früher beruflich die schicksten Anzüge trug und tragen musste. Auch fuhr er seit ich denken kann nur Gebrauchtwagen. Materiell investierte er eigentlich nur in seine Sammlungen: Modelautos und Modeleisenbahnen.
Selbst seine anderen großen Sammlungen (Werkzeuge, Musik, Konzerte, Dokumentationen, Bücher und E-Books) führte er ohne unnötig Geld auszugeben. Indem er viel aus der Bücherei kopierte oder online kostenlos sammelte oder preiswerte Sonder- oder Sammelausgaben diverser Magazine und Buchreihen jagte.

Mein Vater war leidenschaftlich wissbegierig und ein Vollzeit Sammler. Im Prinzip ist er mein Archetyp eines Geeks und Fans.

Er hat uns Kinder immer zum Lesen animiert durch seine pure Lesefreude. Mit ihm allein in die Bücherei zu gehen und mir selbst meine Lektüre auszusuchen, während er selbiges Tat war eine der wenigen unserer Vater Tochter solo Aktivitäten als ich klein war. Meine Mutter erzählte mir später, dass mein Vater sich schwer tat sich mit uns Kindern allein zu beschäftigen. Er arbeitete viel. Das war in meiner Kindheit und Jugend noch das normale Familienmodell. Vater bringt die Brötchen heim und Mutter sorgte für Ordnung um und am Tisch.


Daher kann ich nicht behaupten, dass ich zu wenig Zeit mit meinem Vater verbracht habe. Ich habe genug Zeit mit ihm gehabt um seine kulinarische Neugier auf Straßenfesten nachzuahmen. Ich bin ebenfalls von Miniaturwelten und Modelbauten fasziniert. Seine Revell Auto-Bausätze und meine Barbies hatten mehr gemeinsam als viele ahnen. Man denke nur an die vielen Kleinstteile in beiden Welten...

Immer wenn ich fürchte meinen Vater und was ihn ausmachte zu vergessen, stelle ich fest, dass ich und meine Brüder jeder auf seine Art vieles von dem wie wir sind und was uns begeistert von ihm haben. Ein Teil von ihm wird mir immer bleiben, egal wie viel Zeit verstreicht. Die Angst selbst die Erinnerung an ihn zu verlieren schrumpft mit wachsendem zeitlichen Abstand zu seinem Todestag.

Mein Vater hat viele Lehren hinterlassen und viel in mir geprägt. Das bleibt mir mein Leben lang, Vergessensängste hin oder her.

20./24./27.3.20

Bild: Anuja Mary Tilj | unsplash.com
https://unsplash.com/photos/zdDrJaOjbwg

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Montag, 6. April 2020
Ironie
Tragödien ergeben keinen Sinn. Dafür sind sie immer zu emotional behaftet. Aber jede Erfahrung und jede Tragödie, egal wie wir sie annehmen, lehrt uns etwas. Keiner hat gesagt das die erfahrene Lehre schön ist. Geprägt hat mich meine Familientragödie dennoch für immer. Ich bin einfühlsamer für die Gebrochenen und die Ungebrochenen sind mir inzwischen gleichgültiger geworden. Sie stoßen früh genug zu uns Gebrochenen.

6.4.20

Bild: I'm A Warrior · 15. Januar 2020
I'm A Warrior · 15. Januar 2020

"Das Leben ist so ironisch. Es braucht Trauer um Glück zu kennen, Lärm um Stille zu würdigen und Abwesenheit um Präsenz wertzuschätzen."

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Donnerstag, 2. April 2020
Appetitlosigkeit
Als du starbst, lief mein Leben die ersten Stunden wie im Film ab. Als ob ich nur zusehe und gar nicht wirklich hier bin. Da bin. Es war zu absurd. Es war so surreal. Es konnte schlichtweg nicht sein.
Ich werde nie den Schmerz vergessen auf der Polizeiwache als ich das erste Mal deinen gequetschten Verlobung- und Ehering mit winzigen Blutspritzern in eine Plastikfolie gehüllt in der Hand hielt. Seit ich denken kann, hast du diese zwei Ringe nie abgenommen, weil du das nie wolltest noch konntest (physisch wie psychisch).
Bis zu dem Moment hat mein Hirn aus Schutz oder Überlebensmechanismus alle Puzzelteile noch als Systemfehler oder Missverständnis zu deuten versucht z.B. Die Polizisten bei dir zuhause, die Bademantel und Zahnbürste für DNA Tests mitnahmen; Dein Auto gemeinsam mit Polizei abholen und mit meinem Bruder heimfahren aus der Nähe der Unfallstelle; Dein Handy mit meinen ungelesenen besorgten Nachrichten an dich darauf in Händen halten. Erst mit den zwei verbeulten Gold Ringen ist es richtig zu mir durchgesickert. Erst da ist der aller letzte Groschen gefallen. Erst da ist meine aller aller letzte Hoffnung im Keim erstickt.

Die Zeit blieb stehen oder viel mehr lief mein Leben in einer anderen Zeitzone weiter als das Leben meiner Umwelt. Als ob irgendwer den Beat skippen würde auf der gigantischen Vinylplatte meines Lebens.
Jahreszeiten nahm ich nicht wahr. Uhrzeiten nahm ich kaum wahr. Wenn überhaupt, konnte ich registrieren das Sonnenlicht da war und dann wieder nicht.

Dadurch wurde Schlafen und Essen zu belanglosen Nebensächlichkeiten. Meine Nächte schwankten zwischen 4 und 7 Stunden Länge. Wieder einschlafen war einfach unmöglich. Meine Gedanken wollten einfach keine Ruhe geben. Es gab nur schmerzgetränkte oder völlig hohle Gedanken in mir.
Und ähnlich war es mit meinem Essverhalten. Ich hatte meinen Appetit völlig verloren. Erstmals in meinem ganzen Leben konnte ich Hunger ganze Tage vergessen, nicht aus Ärger, sondern aus Leere. Wo soll Hunger herkommen, wenn nichts regulär funktioniert in mir.

Ich aß bescheidene Portionen aus sozialer Norm oder Überfraß mich völlig sinnlos auf der Suche nach Wärmegefühlen. Meist machte mich dieses Überfressen nur müde und hörte relativ schnell wieder auf. Ich nahm weder zu noch ab, aber die Farbe in meinem Gesicht ging verloren. Mein Lebenshunger war verschwunden. Mein kultureller, genussvoller, neugieriger, gemeinschaftlicher Ausdruck im Essen war nicht aufzufinden. Essen verkam zu einer Sache, die man tun muss um zu (über)leben, zu arbeiten, zu funktionieren.

Ich war taub. Magentaub. Etwas das mir nur in einer sehr sehr viel abgeschwächter Art von einem einzigen Liebeskummer bekannt war. Es entsprach mir schlichtweg nicht.
Ich war kraftlos, lustlos, hoffnungslos. Und auch nur der Gedanke, wie ich dagegen ankämpfen könnte, war mir zu viel. Ich akzeptierte diese Umstände einfach. Ich ließ meinen Fressattacken und meinen Hungerphasen freien Lauf. Was dem eigenen Leben Farbe und Freude verleiht, muss im Leben jeder selbst rausfinden. Ich hatte meine Freude aus dem ahnungslosen Nichts verloren.

Ich stand völlig neben mir. Von null auf 180. Ohne jeden Dämpfer. Ich war jemand anderes geworden. Was für eine schmerzhafte und seltsame Erfahrung.

26./27.3.20

Bild: Kerem Suer | unsplash.com
https://unsplash.com/photos/Oe5bXf5CUTU

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