Freitag, 1. Mai 2020
Suizid: Mein Bruder, der sein Leben nicht mehr wollte
von Gregor Knuth

"Gleich mit der ganzen Wahrheit zu antworten ist für die meisten Menschen schwer zu ertragen. Den richtigen Umgang mit jemandem, der mit dem Selbstmord eines Angehörigen klarkommen muss, gibt es wahrscheinlich gar nicht. Was soll man auch sagen? Es ist einfach alles viel zu schwer bei diesem Thema. [...] Ich male mir oft aus, wie wir zwei heute miteinander wären. [...]

„Hallo, hier ist Papa. Sitzt du?“ Komische Art, ein Telefonat zu beginnen, denke ich noch. [...]
Wie ich mir ein paar Tage später Hemd und Pullover von Hugo Boss in Schwarz kaufe. „Das macht superschlank“, sagt die Verkäuferin zu mir. „Mein Bruder hat sich erschossen“, antworte ich. Sie drückt mich an sich, ich weine auf ihre Polyesterbluse. Am Ende schenkt sie mir eine Rabattkarte, und ich schäme mich.
Entsetzlich, als ich Thomas’ Handy abhöre und auf die letzte Sprachnachricht meiner Mutter stoße. Sie fragt besorgt, ob er sich bitte kurz melden könne, da er seit Tagen nicht auf ihren Anruf geantwortet habe. Da war es schon zu spät. [...] Oder als mir die Nachbarn auf die Schultern klopfen und sagen, dass ich jetzt für die Familie stark sein muss, schließlich haben sie gerade ein Kind zu Grabe getragen. „Fick dich!“, brülle ich am Tag nach der Beerdigung über den Friedhof, so oft, bis Tränen meine Stimme ersticken. Ich fühlte mich wirklich wie der einsamste Mensch. Vielleicht war Thomas wirklich wie ein Alien, der mit dem Leben hier unten nicht klarkam? Ich wusste im Grunde genommen nichts über ihn. [...]

Ich habe damals lernen müssen, dass Trauer viele Facetten hat. Wie aus einer schrecklichen Wundertüte kamen täglich neue, teils absurde Gefühle in mir hoch – in den unpassendsten Situationen musste ich Tränen lachen, dann hemmungslos schluchzen. Mal fühlte ich Hass, Wut, dann Einsamkeit, Selbstmitleid. Große Angst, dass meinen Eltern etwas zustößt oder dass mir, ihrem letzten Kind, etwas zustoßen könnte. Dazu ein starkes Schamgefühl, Teil einer Familie zu sein, in der „so was“ passiert. [...]
Erst nach und nach lernte ich, von mir aus zu sagen, was ich mir wann von wem an Zuwendung und Hilfe wünschte. [...]
"Mir fällt auf, dass Sie kein schlechtes Gewissen haben“, sagt mein Psychologe irgendwann im Laufe einer sehr intensiven, strapaziösen Therapie. „Sich Vorwürfe zu machen ist eine verständliche Reaktion Angehöriger.“ Er attestiert mir eine außerordentliche Resilienz, auch wenn ich die vielleicht gerade nicht spüren könne. „Sie wird ihnen helfen, mit dieser Tragödie klarzukommen.“ Ich muss danach erst mal googeln, was Resilienz genau heißt. Psychische Widerstandskraft. [...]

Es wäre schön, wenn ich jetzt schreiben könnte, dass ich seit damals mein Leben intensiver lebe oder einfach bewusster. [...] Das ist aber ganz und gar nicht so. [...]
Was ich aber gelernt habe: Man kann im Leben wirklich einiges aushalten und sogar daran wachsen. Auch eine Familie kann das, selbst wenn sie sich danach völlig neu ausrichten muss. Meine Eltern sind an der Katastrophe nicht zerbrochen, weil sie sich lieben. Ich bin sehr empfindsam. Aber ich bin wieder, oder immer noch, ein eher zu Euphorie neigender, lebensfroher Mensch. Trotz oder gerade wegen des Schattens, der sich hin und wieder über meine Seele legt. Ich kann wieder Nähe zulassen und würde von mir behaupten, dass ich angemessen mit Trauernden und dem Thema Tod umgehen kann – meistens. Ich bin so was wie glücklich. Auch weil ich Thomas’ Entscheidung irgendwann akzeptieren konnte – verstehen werde ich sie nie."

aus: Gregor Knuth, Plötzlich Einzelkind: Mein Bruder, der sein Leben nicht mehr wollte, Barbara, Heft August/September 2018, G+J Medien GmbH, Hamburg

Bild: Tim Marshall | unsplash.com
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Dienstag, 28. April 2020
Fortschritte alias Lebensereignisse
Manchmal, so wie gestern, unterhalte ich mich mit Freunden oder Bekannten, die ich länger nicht gesehen oder gehört habe. Aus den vielen Neuigkeiten entsteht ein Vorher-Nacher-Bild meiner Freunde und ich frage mich wo die Zeit bloß geblieben ist. Diese Frage nach der Zeit ist gar nicht reumutig oder verbittert, sondern lediglich verwundert. Ich freue mich mit meinen Freunden über ihre jeweiligen Fortschritte (Schwanger, Berufliche Selbstständigkeit, Verlobt). Nach dem Gespräch wundere ich mich, warum es bei mir keine großen Neuigkeiten gibt, während meine Freunde Lebensereignisse zelebrieren.

Und dann fällt mir in meiner besten Laune wieder ein, dass ich vor kurzem noch eine Tragödie zu verarbeiten hatte. Ich habe den Tod meines Vaters während dem Gespräch völlig ausgeblendet. Nicht weil ich dieses "Lebensereignis" verdrängt habe, sondern weil ich so sehr aufs zelebrieren meiner Freunde konzentriert war.
Ich habe es nicht laut gegenüber meinen Freunden ausgesprochen, aber ich bin stolz auf mich mein Leben in seinem jetzigen Zustand (ohne Ehering, ohne Kind, ohne Haus, ohne Beförderung) lieben zu können. Ich bin stolz auf meinen geistigen Zustand; im Reinen mit mir, meinem Mann, meinem Leben zu sein. Das war kein leichter Weg hierher.
Eine Tragödie, wie die in meinem Leben, kann ein Leben nachhaltig zerstören. Manche Menschen erholen sich nicht von so einem Verlust.

Der Geburtstag meines verstorbenen Vaters steht vor der Tür und mein Geist ist ruhig, ja ausgeglichen, gar friedlich. Wenn das kein Grund zum feiern ist, weiß ich auch nicht weiter.
Man bekommt für seine geistige Genesung kein großes Geschenk, Grußkarten oder wird gar gefeiert von anderen. Aber das ist auch gar nicht nötig.
Ich feiere mich selbst, während ich plane wie ich meinem Vater an seinem Grab zum Geburtstag gratulieren werde.

Fortschritte und Lebensereignisse muss jeder für sich selbst bewerten. Denn die Menschen, die einem gratulieren, sind nicht die Gesichter, die man jeden Morgen und jeden Abend im Spiegel ertragen muss oder lieben kann. Es ist mein eigenes Gesicht in der Reflexion des Spiegels. Es hat sein Lächeln wieder gefunden.

27.4.2020

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Freitag, 24. April 2020
(001) 1-800-273-8255 alias 0-800/111-0-111
von Logic ft. Alessia Cara, Khalid


SONGTEXT ÜBERSETZUNG:

Ich habe mich versteckt
Ich habe mir Die Zeit genommen
Ich fühle mich als hätte ich meinen Verstand verloren
Es fühlt sich an als ob mein Leben nicht mir gehört
(Wer kann’s nachempfinden?)
Ich habe mich versteckt
Ich habe mir Die Zeit genommen
Ich fühle mich als hätte ich meinen Verstand verloren
Es fühlt sich an als ob mein Leben nicht mir gehört

Ich will nicht am Leben sein
Ich will nicht am leben sein
Ich will heute einfach nur sterben
Ich will nur sterben
Ich will nur sterben
Lass mir dir erzählen warum


All diese andere Scheiße über die ich rede
sie denken sie wüssten es
Ich hab darum gebetet, dass mich jemand rettet
niemand ist heldenhaft
Und mein Leben zählt eh nicht
Ich weiß es, Ich weiß es
Ich weiß, dass ich tief in mir drin leide
aber ich kann es nicht zeigen
Ich hatte nie einen Ort,
den ich mein eigen nennen konnte
Ich hatte nie ein zuhause
niemand der mich auf meinem Handy anruft
Wo warst du? Wo bist du? Was beschäftigt dich?
Sie sagen, jedes Leben ist wertvoll
aber niemand interessiert sich für mich

Ich habe mich versteckt
Ich habe mir Die Zeit genommen
Ich fühle mich als hätte ich meinen Verstand verloren
Es fühlt sich an als ob mein Leben nicht mir gehört
(Wer kann’s nachempfinden?)
Ich habe mich versteckt
Ich habe mir Die Zeit genommen
Ich fühle mich als hätte ich meinen Verstand verloren
Es fühlt sich an als ob mein Leben nicht mir gehört

Ich will dass du am Leben bleibst
Ich will dass du am leben bleibst
Du musst heute nicht sterben
du musst nicht sterben
Ich will dass du am Leben bleibst
Ich will dass du am leben bleibst
Du musst nicht sterben
nun lass mir dir erzählen warum


Es ist der aller erste Atemzug
wenn dein Kopf Unterwasser getränkt wurde
Und es ist die Leichtigkeit in der Luft
wenn du da bist, Brust and Brust, mit einem Liebhaber
Es ist festhalten, obwohl der Weg lang ist
Licht in den dunkelsten Dingen sehen
Und wenn du dein Spiegelbild anstarrst
endlich begreifend wer das ist
Ich weiß, dass du Gott danken wirst, dass du tatest

Ich weiß wo du warst, wo du bist, wo du hingehst
Ich weiß, dass du der Grund bist
dass ich ans Leben glaube
Was ist ein Tag ohne ein bisschen Nacht?
Ich versuche bloß ein kleines Licht auszustrahlen
Es kann schwer sein
Es kann so schwer sein
Aber du musst genau jetzt leben
Du hast genau jetzt alles zu geben

Ich habe mich versteckt
Ich habe mir Die Zeit genommen
Ich fühle mich als hätte ich meinen Verstand verloren
Es fühlt sich an als ob mein Leben nicht mir gehört
(Wer kann’s nachempfinden?)
Ich habe mich versteckt
Ich habe mir Die Zeit genommen
Ich fühle mich als hätte ich meinen Verstand verloren
Es fühlt sich an als ob mein Leben nicht mir gehört

Ich will endlich am leben sein
Ich will endlich am leben sein
Ich will heute nicht sterben
Ich will nicht sterben
Ich will endlich am leben sein
Ich will endlich am leben sein
Ich will nicht sterben
Ich will nicht sterben


Schmerz tut nicht auf dieselbe Art weh, ich weiß
Dieser Weg, den ich bereise, fühlt sich einsam an
Aber ich bewege mich bis meine Beine aufgeben
Und ich meine Tränen im Schnee schmelzen sehe
Aber ich will nicht weinen
Ich will nicht mehr weinen
Ich will am leben sein
Ich will nicht mehr sterben
Oh, ich will nicht
Ich will nicht
Ich will sogar nicht mehr sterben

Übersetzung: Anna Mestisa

Bild: Nate Neelson | unspalsh.com
https://unsplash.com/photos/-nVrF2DL2Jo

ALTERNATIV:
"1-800-273-8255" Songtext Übersetzung

ORIGINAL LIEDTEXT:
"1-800-273-8255" von Logic ft. Alessia Cara, Khalid
(C) 2017 Def Jam Recordings, a division of UMG Recordings, Inc.

MUSIKVIDEO:
"1-800-273-8255" von Logic ft. Alessia Cara, Khalid
(C) 2017 Def Jam Recordings, a division of UMG Recordings, Inc.

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